Eine entzückende Geschichte, die von einem chinesischen Kaiser, einer lebendigen und einer künstlichen Nachtigall erzählt. Dramatisch wird es, als der Kaiser kurz vor seinem Lebensende steht. Eine Erzählung voller Herz, die auch verschiedene Seiten unserer mechanisierten und digitalisierten Welt ins Bild bringt.
Wie bereits erwähnt, besuchte ich in China, genauer gesagt in Nan Shan nahe Peking, einen Laden - „Coulours of Waldorf" -, in dem es verschiedenes Waldorfspielzeug, u.a. selbst hergestellte Alternativen zu den bei uns bekannten „Ostheimer"-Figuren zu erwerben gab. Ich kam in die Bücherecke und sah ein Bilderbuch, dessen Illustrationen mich sehr ansprachen. Obwohl es auf Chinesisch geschrieben war und ich nur erahnen konnte, worum es in der Geschichte ging, kaufte ich es für meine Enkel. Dann machte ich mich daran die Geschichte mit Unterstützung durch eine Übersetzungs-App ins Deutsche zu übertragen.
Ich war begeistert! Eine wunderbare Geschichte, ein Märchen wie aus dem alten China, das so aktuell ist, wie man es sich nur wünschen kann. Es handelt sich um eine Adaption einer Erzählung von Hans Christian Andersen aus dem Jahre 1843, wie ich später herausfand.
Der Unterschied zwischen einer echten und einer künstlichen Nachtigall wird eindrücklich geschildert. Das Thema „Freiheit" spielt eine Rolle, aber auch Achtung und Respekt vor dem, was kunstvoll von Menschen geschaffen wurde. Die Erzählung eignet sich in dieser Fassung hervorragend zum Erzählen für jüngere und eventuell auch ältere Schulkinder. Man kann anschließend mit den Kindern, nach Alter differenziert, über die behandelten Themen ins Gespräch kommen.
Die ganze Geschichte ist im Stil einer sogenannten „sinnigen Geschichte" geschrieben, bei der Naturwesen - hier die Nachtigall - sprechen können und etwas von ihrem jeweiligen Charakter in Erscheinung tritt. Rudolf Steiner hat solche Geschichten, die man auch selbst erfinden kann, für Kinder vor dem 9./10. Lebensjahr vorgeschlagen, einem Alter, in dem sie die Natur noch in anderer Weise beseelt erleben als wir Erwachsenen.
Und hier nun die Erzählung:
Die Nachtigall
Die Nachtigall
Im alten China gab es einen Kaiser, der den prächtigsten Palast der Welt besaß. Dazu gehörte ein endloser Garten mit kostbaren Blumen, an die silberne Glöckchen gebunden waren, so dass man sie schon von Weitem hören konnte.
Wenn man weiterging, erblickte man einen dichten Wald, in dem eine Nachtigall lebte. Sie sang so schön, dass selbst der tüchtigste und fleißigste Fischer nicht anders konnte, als in seiner Arbeit innezuhalten und ihr zuzuhören.
Reisende aus aller Welt liebten es, den Palast und die Gärten in China zu besuchen. Als sie aber die Lieder der Nachtigall hörten, riefen alle wie mit einer Stimme: „Das ist der schönste Garten, den wir je gesehen haben!"
Nach ihrer Heimkehr schrieben sie viele Bücher über die chinesischen Paläste und Gärten, besonders aber über die Nachtigall, die in den Wäldern lebte und sang. Diese Bücher wurden überall verbreitet, und einige von ihnen erreichten auch den Kaiser.
Der chinesische Kaiser las sie immer wieder und nickte dazu beinahe jede Sekunde einmal mit dem Kopf.
Der Kaiser fragte sich: „Was geht da nur vor? Ich hatte gar keine Ahnung, dass dieser Vogel überhaupt existiert, obwohl er hier in meinem Garten lebt und das Schönste und Wertvollste ist, was es zu geben scheint!"
Der Kaiser rief einen Höfling und fragte ihn: „Weißt du, dass es in meinem Garten einen kleinen Vogel gibt, der Nachtigall heißt?"
Der Höfling antwortete „Oh, Eure Majestät, ich habe noch nie davon gehört.“
Der Kaiser befahl: „Heute Abend musst du ihn dazu bringen, für mich zu singen!"
Der Höfling lief also im Palast herum und fragte nach dem wundersamen Vogel, aber niemand wusste, wo die Nachtigall war.
Er musste zum Kaiser zurückkehren und ihm sagen, dass es sich um ein Märchen handeln müsse, das sich die Leute ausgedacht hätten, die das Buch geschrieben hatten.
Aber der Kaiser glaubte, dass es die Nachtigall wirklich gab, und sagte hartnäckig: „Ich muss sie singen hören! Wenn sie heute Abend nicht kommt, werdet ihr alle ein paar Schläge mit dem Brett auf eure Bäuche bekommen!“
Der Höfling lief wieder im Palast herum, ihm folgten viele andere Höflinge, denn sie alle wollten ihre Bäuche nicht leiden lassen.
Endlich stießen sie in der Küche auf eine kleine Dienstmagd und fragten sie nach der Nachtigall. Sie sagte: „Ich kenne den Vogel sehr gut! Jeden Abend, wenn ich von hier nach Hause gehe, muss ich durch den Wald gehen. Der Vogel singt für mich, und sein Lied ist so sanft, dass es klingt, als würde mich meine Mutter küssen und es treibt mir Tränen in die Augen, wenn ich ihn höre!"
Der Höfling war überglücklich und sagte zu der kleinen Magd: „Wenn du mich zur Nachtigall bringst, werde ich dir eine feste Anstellung in der Küche verschaffen und dir erlauben, den Kaiser beim Essen zu sehen."
Mit diesen Worten machten sie sich gemeinsam auf den Weg in den Wald.
Auf der Straße muhte bald darauf eine Kuh. Ein junger Edelmann sagte sofort: „Wir haben endlich die Nachtigall gefunden!“ Aber die junge Magd sagte: „Das ist die muhende Kuh, wir sind noch weit weg von dort!"
Da quakten die Frösche. Einer der Beamten sagte sofort: „Das ist der Ruf der Nachtigall!" Die kleine Magd sagte: „Das ist der Frosch. Aber wir sind bald da.“
Schließlich hörten sie tatsächlich den Gesang der Nachtigall. Sie folgten dem Fingerzeig der kleinen Magd und sahen einen kleinen grauen Vogel auf einem Ast sitzen.
Ein Diener sagte: „Soll das etwa die Nachtigall sein? Dieser Vogel sieht doch völlig unscheinbar aus!"
„Kleine Nachtigall!" rief die kleine Magd, „unser gütiger Kaiser möchte dich bitten, für ihn zu singen." „Mit großem Vergnügen!" sagte die Nachtigall und sang erneut.
Da sprach der Höfling: „Kleine Nachtigall, mir wurde die Ehre zuteil, dich zu einem Fest in den Palast einzuladen und du sollst den Kaiser mit deinem wunderbaren Gesang erfreuen."
Die Nachtigall erwiderte: „Am besten kann ich im grünen Wald singen!" Dennoch begab sie sich bald auf den Weg zum Palast.
Der kaiserliche Palast wurde festlich beleuchtet. Die Blumen mit ihren silbernen Glöckchen wurden aus dem Garten in die Eingangshalle gebracht und bimmelten in einem fort. In der Haupthalle wurde eine goldene Säule aufgestellt, die als Bühne für die Nachtigall diente. Der Kaiser saß in der Mitte des Saals und um ihn herum das gesamte Volk des Palastes, welches sich in seine schönsten Gewänder gekleidet hatte. Alle Augen waren auf den kleinen grauen Vogel gerichtet.
Der Kaiser nickte der Nachtigall zu. Sie ließ sogleich ihr Lied erklingen und sang. Sie sang so schön, dass der Kaiser zu Tränen gerührt war. Die Nachtigall sagte: „Es ist so kostbar für mich, die Tränen des Kaisers zu sehen!" So sang sie weiter mit ihrer süßen Stimme.
Die Nachtigall ließ sich im Palast nieder und blieb die meiste Zeit in ihrem Käfig, nur einmal am Tag und zweimal in der Nacht wurde der Käfig geöffnet, damit sie spazieren fliegen konnte.
Wann immer sie ausflog, wurde sie von zwölf Dienern verfolgt. Immer, wenn sie nicht mehr zu sehen war, zogen die Diener ganz fest an dem seidenen Faden, der an ihrem Bein befestigt war. Ein solcher Ausflug ist nun wirklich kein Vergnügen!
Eines Tages erhielt der Kaiser ein Päckchen vom Kaiser von Japan - es enthielt ein Geschenk, eine prächtige Nachtigall! Die künstliche Nachtigall unterschied sich nicht sehr von der echten, außer dass sie mit schönen Diamanten besetzt war. Wenn sie aufgezogen wurde, sang sie dasselbe Lied wie eine echte Nachtigall, ihr Schwanz schwang auf und nieder, goldenes und silbernes Licht strahlte von ihr aus.
Die Leute am kaiserlichen Hof versuchten, die beiden Nachtigallen zum gemeinsamen Singen zu bewegen, aber es gelang nicht - die echte Nachtigall sang immer so frei, wie sie wollte, während die künstliche Nachtigall stets einen Walzer sang.
Die künstliche Nachtigall ließ man also alleine singen und sie sang dasselbe Lied dreiunddreißig Mal ohne Unterlass.
Niemand bemerkte, dass genau in diesem Augenblick die echte Nachtigall leise zum Fenster hinausflog, zurück in den grünen Wald, wo sie in Gedanken immer gewesen war.
Die Minister verfluchten die echte Nachtigall und nannten sie ein undankbares Geschöpf. Gleichzeitig sagten sie aber auch erleichtert: „Zum Glück haben wir einen besseren Vogel!"
Der Kaiser wollte, dass auch das Volk die künstliche Nachtigall singen hörte, und er gab den Musikern die Erlaubnis, den Vogel öffentlich auszustellen.
Alle waren beeindruckt, aber der Fischer, der die echte Nachtigall hatte singen hören, sagte: „Dieser künstliche Vogel singt sehr gut, aber es fehlt etwas."
Die künstliche Nachtigall erhielt den Namen „Edle kaiserliche Nachtsängerin" und wurde vom Kaiser bevorzugt, während die echte Nachtigall aus China vertrieben wurde.
Ein ganzes Jahr verging.
Eines Nachts, als die künstliche Nachtigall sang, gab es plötzlich ein zischendes Geräusch, dann zerbrach etwas, und das Lied nahm ein jähes Ende.
Der Kaiser rief sofort den kaiserlichen Arzt in den Palast, doch der konnte nichts ausrichten.
Die Minister holten einen Uhrmacher, der widerwillig die künstliche Nachtigall reparierte, aber er sagte, dass sie von nun an nur noch einmal im Jahr singen würde - wie traurig!
Fünf Jahre später kam es zu einem noch traurigeren Ereignis. Der vom Volk verehrte Kaiser erkrankte schwer und lag regungslos in seinem prächtigen Bett. Es hieß, dass er bald sterben würde.
Das Atmen fiel dem Kaiser immer schwerer. Er öffnete die Augen und sah, dass der Tod schon auf ihm saß. Er trug des Kaisers Krone, hielt sein kostbares Schwert und sein Banner. Gleichzeitig ragten aus dem Samtvorhang viele seltsam geformte Köpfe hervor, die miteinander wetteiferten und dem Kaiser dies und jenes sagten, so dass sein Kopf zu explodieren drohte.
Der Kaiser rief der künstlichen Nachtigall zu: „Sing, sing auf, mein Schatz, mein kleiner goldener Vogel! Ich will das ganze Gezeter nicht mehr hören!" Aber der künstliche Vogel konnte keinen einzigen Ton von sich geben, denn niemand hatte ihn aufgezogen.
In diesem Moment ertönte draußen vor dem Fenster ein wunderschöner Gesang - die echte Nachtigall war zurückgekehrt. Sie hatte gehört, dass der Kaiser schwer erkrankt war, und war gekommen, um ihn mit ihrem Gesang zu trösten und seine Lebenslust zu wecken.
Nun rauschte das warme Blut wieder durch den starren Körper des Kaisers und die seltsamen Köpfe zogen sich zurück. Der Tod, der von dem Lied tief angerührt war, lauschte und flehte die Nachtigall an: „Sing, sing bitte, sing weiter!"
Die Nachtigall fragte den Tod: „Wirst du mir dafür des Kaisers Krone zurückgeben? Wirst du mir sein Schwert und sein Banner geben?“
Nachdem der Tod die Kostbarkeiten wieder zurückgegeben hatte, sang die Nachtigall weiter, sie sang von einem wunderschönen Friedhof voller Blumen. Da musste der Tod an seine Heimat denken. Er verwandelte sich in einen Nebel und verschwand schließlich durch das Palastfenster.
Voller Dankbarkeit und Scham fragte der Kaiser die Nachtigall: „Ich habe dich vertrieben, aber du hast mich gerettet. Was kann ich tun, um mich zu revanchieren?"
Die Nachtigall sagte: „Du hast mir bereits alles zurückgezahlt! Als ich hier zum ersten Mal sang, hast du geweint, und jede Träne war eine Perle für mich! Nun ruh dich gut aus, ich werde dich mit meinen Liedern in den Schlaf begleiten.“
Und so schlief der Kaiser friedlich zu den Klängen der Nachtigall ein.
Als der Kaiser am Morgen erwachte, fand er sich in der Wärme der Sonne liegend, er war wieder völlig gesund. Kein Diener stand an seinem Bett, allein die Nachtigall und sang für ihn.
Der Kaiser war gerührt und sagte: „Bleib, treuer Vogel, lebe für immer bei mir! Ich werde diesen künstlichen Vogel in Stücke zerschlagen!"
Aber die Nachtigall antwortete: „Er hat sein Bestes gegeben, lass ihn an deiner Seite bleiben. Aber ich muss fort und für die singen, die weit vom Palast entfernt leben. Ich liebe dein Herz mehr als die Krone auf deinem Haupt, und ich werde wiederkommen, um für dich zu singen."
So sprach die Nachtigall und flog davon.
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