Im April 2023 war ich nach China eingeladen, um in Peking mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines einjährigen Ausbildungskurses drei Wochen zum Thema „Waldorfpädagogik“ zu arbeiten. Von meinen Erfahrungen und Erlebnissen im fernen Osten berichte ich mit einer kleine Reihe von Beiträgen.
Mit den Studenten des College in Peking habe ich, wie in früheren Jahren mit den Studierenden des Waldorfinstitutes Witten Annen, zumindest auszugsweise an Rudolf Steiners Schrift „Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft“ gearbeitet.
Zeitfragen und Zeitforderungen
Dieser Aufsatz von 1907 beginnt damit, dass Rudolf Steiner über die damaligen „Zeitfragen“ und „Zeitforderungen“ spricht, zu denen er „die soziale Frage, die Frauenfrage, die Erziehungs- und Schulfragen, die Rechtsfragen, die Gesundheitsfragen usw. usw.“[1] zählt. Vor der Arbeit am Text habe ich die jungen Menschen am Institut jeweils gefragt, was denn aus ihrer Sicht die Fragen seien, an deren Bewältigung sie als junge Generation zu arbeiten hätten. Die aufgeführten Themen waren von Jahr zu Jahr ähnlich, genannt wurden u.a.: „Klimafrage, Bildungsfrage, Frauenfrage, Frage von Arm und Reich, ökologische Fragen,....“ Heute würden sicherlich noch genannt: „Rassismusfrage, Genderfrage etc.“ Es wurde stets deutlich, dass die vor nahezu 120 Jahren von Rudolf Steiner angesprochenen „Zeitfragen“ fortbestehen und sich bis heute nicht wesentlich geändert haben, es sind lediglich weitere Fragen dazu gekommen.
Vertrauen
In China habe ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kurses zur Waldorfpädagogik dieselbe Frage gestellt: Was sind aus eurer Sicht aktuelle Zeitfragen? Das erste, was genannt wurde, war „Vertrauen“. Ich war irritiert, wusste nicht wirklich, was gemeint war, also fragte ich nach. Es ginge um das Vertrauen zwischen Mensch und Mensch, dass man dem anderen wirklich vertrauen könne, dass er einem die Wahrheit sagt, einem nicht etwas vormacht, etwas vorspielt.
Was hatte Rudolf Steiner im so genannten „Pädagogischen Jugendkurs“ 1922 gesagt?[2] Das, was den Zusammenhalt der Gesellschaft ausmacht, was letztlich das Einzige sei, was diesen bewirken könne, sei das Vertrauen von Mensch zu Mensch. In Zukunft würde es für den einzelnen Menschen keine bitterere Erfahrung geben als die, dass das Vertrauen in einen anderen enttäuscht werde. Das erkannte ich in dieser, von einer chinesischen Teilnehmerin genannten Zeitfrage wieder.
Weitere Zeitfragen wurden genannt:
Verständnis für den anderen.
Entfremdung zwischen den Menschen.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Zukunftsangst.
Etwas hinterhergeschoben kamen dann noch die Frauenrechte und die Erziehungs-/Bildungsfrage.
„Rassismusfrage"?
Diese Antworten erstaunten mich und stimmten mich nachdenklich. Die genannten Zeitfragen waren so ganz anders als die, die ich bisher gehört hatte. Als ich von „unseren“ Zeitfragen berichtete, musste mein Übersetzer erst einmal erklären, was mit „Rassismusfrage“ überhaupt gemeint ist...
Zeitforderungen und Politik
Je mehr ich darüber nachdachte, umso deutlicher wurde mir, wie sehr wir, wie sehr auch ich in jeglicher Hinsicht politisiert bin. Wesentliche menschliche Fragen werden bei uns ganz abstrakt gestellt, werden zu politischen Fragen gemacht: Die Frage der Angst vor der Zukunft ist am Ende die „Klimafrage“, die Frage nach dem Verständnis für den anderen Menschen ist am Ende etwa die Rassismusfrage. Die Genderfrage und die ökologische Frage sind Fragen der Entfremdung, usw. Die Frage des „Transhumanismus" ist letztlich die nach dem Sinn des Lebens. Die wesentlichen Fragen des Menschseins werden in der breiten Öffentlichkeit gar nicht gestellt, wir werden ständig davon abgelenkt durch die aktuellen, sich immer schneller wandelnden „Zeitfragen“, die heute rasch zu „Zeitforderungen“ werden, welche durch die Politik, durch Gesetze und Vorschriften gelöst werden sollen.
Lösungswege
Ich verstand nun den Anfang der erwähnten Schrift von Rudolf Steiner wieder ein Stück weit besser. Nachdem er die damaligen Zeitfragen aufgezählt hat, beschreibt er die Wege, die gegangen werden, um sie zu lösen. Er beschreibt drei Strömungen: Die erste ist die konservative Strömung, die will, dass alles so bleibt, wie es ist. Die zweite ist die revolutionäre Strömung, sie will alles Gewordene „zerschlagen“ und an dessen Stelle etwas ganz Neues setzen. Und die dritte Strömung sieht im Gewordenen durchaus dasjenige, was bewahrenswert ist, möchte es aber sanft verwandeln, dazwischen gibt es noch allerhand Übergänge. Keiner dieser Wege aber wird zum Ziel führen, so deutet Rudolf Steiner an, er spricht von „unzulänglichen Mitteln", mit denen man an diese Fragen herangeht. Wenn man das einmal ernst nimmt, müsste man sagen: Aber andere denkbare Wege gibt es doch gar nicht! Das sagt uns der Verstand, das sagt uns doch die Logik.
Lebensfragen
Mir scheint, ein Problem ist, dass die „Zeitfragen“ auf eine Weise gestellt werden, die eine Beantwortung im Leben erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Es liegt also auch an der Fragestellung selbst, dass wir nicht weiterkommen, daher haben wir mehr als 100 Jahre später immer noch bzw. schon wieder dieselben Fragen. Rudolf Steiner kommt im Rahmen seiner Schrift auf eine dieser Fragen ausführlicher zu sprechen und bezeichnet in diesem Zusammenhang die Erziehungsfrage als eine „Lebensfrage“[3]. Diese Frage als Lebensfrage zu stellen bedeutet, nicht zu fragen, wie erzogen werden soll, sondern sich ein Verständnis für den Menschen, insbesondere für den jungen Menschen und dessen Entwicklung zu erwerben. „Nicht Forderungen und Programme sollen aufgestellt werden, sondern die Kindesnatur soll einfach beschrieben werden.“[4] Die Erziehungsfrage ist letztlich also keine Frage der Politik, der Gesetzgebung, der Konzepte, der staatlichen Aufsicht etc., sondern eine Frage des Menschenverständnisses. Daher sind ministerielle oder sonstige von dritter Seite formulierte Vorgaben und Vorschriften eher hinderlich als förderlich, wie Menschen, die aus eigener Initiative eine Schule gründen wollen, häufig erleben. Die Frage nach dem rechten Verständnis für den Menschen, die von den Persönlichkeiten, die ich in China kennen gelernt habe, als so brennend erlebt wird, ist eine viel weiter gehende und weiter führende als die Frage, wie die Erziehungs- und Bildungsfrage oder andere Zeitfragen (politisch) gelöst werden könnten.
Zeitforderungen und Lebensfragen
Als ich von China nach Deutschland zurück kam, habe ich sehr bewusst wahrnehmen können, womit das Gedankenleben der Menschen hier beschäftigt ist und wie sehr sie dadurch von den wirklich wesentlichen Fragen abgelenkt werden. (Dreieinhalb Wochen ohne sozialen Medien haben sicherlich das Ihrige beigetragen.) Die einen beschäftigen sich z.B. intensiv mit der Genderfrage und treiben ihre – wie sie meinen fortschrittlichen – Ideen voran. Andere beschäftigen sich ebenfalls mit der Genderfrage, denn sie finden das Vorgehen und die Forderungen der ersten völlig abwegig und schädlich. Die Strömungen, von denen Rudolf Steiner spricht, waren für mich deutlicher zu erkennen.
Hinsichtlich unserer Entwicklung als Menschen oder Menschheit führt allerdings weder das eine noch das andere weiter. Was aber zeigt sich an diesen „Zeitfragen"? Es zeigt sich das, was fehlt, was vermisst wird. Es zeigt sich, dass ein tieferes Verständnis für den Menschen, die Natur und die Entwicklung der Menschheit und Erde fehlt. Gerade die Anthroposophie kann und möchte – wie Rudolf Steiner in der erwähnten Schrift ausdrücklich erwähnt – eine Hilfe für diese wesentlichen Lebensfragen sein, wie sie von den Menschen, die ich in China kennen gelernt habe, aus tiefstem Herzen gesucht wird.
P.S.: Falls jemand diesbezüglich irritiert ist: Selbstverständlich weiß ich, dass auf dem Foto keine chinesischen Menschen abgebildet sind – es schien mir aber doch geeignet zu verdeutlichen, um welch unterschiedliche Ebenen es geht.
[1] Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft, Dornach 1988, S. 7
[2] s. Blog-Beitrag von Antje Bek: Liebe, Menschen- und Gottvertrauen - Für eine Pädagogik der Zukunft [3] Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft, Dornach 1988, S. 9 [4] ebd.
Foto: Rebecca Zaal
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