Sechster Vortrag vom 8. Oktober 1922[1]
Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs[2]
Vorbemerkung: Vor hundert Jahren sprach Rudolf Steiner in Stuttgart vor jungen Menschen, die zum größten Teil mit der Anthroposophie nicht vertraut waren. Worüber er damals sprach, scheint heute aktueller und brennender denn je zu sein. Daher habe ich mich entschlossen, eine kleine Serie zu beginnen. Je Beitrag möchte ich in der entsprechenden Reihenfolge auf einen der dreizehn Vorträge Rudolf Steiners eingehen. Es werden jeweils nur ausgewählte Gesichtspunkte der Vorträge behandelt, die in mir besondere Resonanz gefunden haben. Mit ist durchaus bewusst, dass dadurch andere wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. Wenn sich Menschen angeregt fühlten, dann selbst den erwähnten Vortrag zu lesen, wäre es mir eine große Freude! Den Link zum Vortrag findet man unten.
Wie in allen vorherigen Vorträgen geht Rudolf Steiner im sechsten Vortrag wiederum auf die Entwicklung der Menschheit ein. So wie der Entwicklung des Kindes vom Säugling zum erwachsenen Menschen kosmische Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, die wir nicht verändern oder diskutieren können, gibt es auch Gesetzmäßigkeiten, die die Entwicklung der gesamten Menschheit betreffen. Wir leben jetzt in einem Zeitalter, wo jeder Mensch selbst die inneren Impulse finden muss, aus denen heraus er lebt und handelt. Keine religiösen Gesetze, keine Stammes- oder Familienregeln, keine konventionellen, von außen vorgegebenen Vorschriften können mehr ihre Wirksamkeit für die weitere Entwicklung der Menschheit entfalten. Diesbezüglich sind wir an einem Nullpunkt angekommen, an dem nun zunächst ein unbestimmtes Neues gesucht wird, an dem eine Sehnsucht entsteht, wie Rudolf Steiner vor 100 Jahren den jungen Menschen erläutert. Diese Sehnsucht der Jugend gibt es auch heute noch - allerdings nicht nur bei der Jugend. Wie kann es weitergehen?
Den Geist aus der Materie erlösen
Wo kann der Einzelne Anhaltspunkte für sein individuelles Handeln finden? Nicht mehr im Außen, sondern nur in und durch sich selbst. Aber wie kann er sie finden? In diesem Zusammenhang hat das lebendige Denken, wie es im letzten Beitrag[3] bereits angedeutet wurde, eine große Bedeutung. In einem Vortrag am 29. April 1919[4] hat Rudolf Steiner davon gesprochen, dass ein Teil unseres seelisch-geistigen Wesens in unseren Körper, ein Teil in unsere Fähigkeiten und ein Teil in unser Schicksal eingetaucht ist. Durch den Körper hat sich dieser Wesensanteil mit der Materie verbunden und möchte nun daraus wieder erlöst werden. „Erlöst“ bedeutet jedoch nicht, dass dieses Wesen den Körper nun flieht oder meidet, seine Fähigkeiten vernachlässigt und zum Opfer seines Schicksales wird. Erlösen meint befreien durch Verwandeln. Denn wenn wir den Geist nicht aus der Materie befreien, dann zerfällt dieser Teil unserer Seele mit der Materie, dann erstirbt dieser Teil unserer Seele in ihr.
Moralische Phantasie
Gunter Gebhart hat in seinem Beitrag „Lebendiges Denken – Leibfreies Denken“[5] - gerade auch für Pädagogen - sehr anschaulich beschrieben, wann unser Denken ganz in der Materie verhaftet bleibt (Hirn-Denken) und wann es aus der Materie gelöst wird (leibfreies Denken). Es geht dabei nicht um Inhalte, die wir denken, sondern um die Art und Weise wie wir denken. Aber wie kann es gelingen das tote, hirngebundene Denken wieder zu beleben? Ein gutes Training ist es, sich mit Texten Rudolf Steiners zu beschäftigen. Die Klage, dass sie zu schwer seien und man sie nicht verstehen könne, ist von einem gewissen Gesichtspunkt aus verständlich. Denn wenn wir mit unserem hirngebundenen Denken, das wir durch die wissenschaftliche Denkart, mit der wir alle aufgewachsen und vertraut sind, an diese Texte herangehen, werden wir sie erstmal (!) nicht verstehen. Wer diese Erfahrung gemacht hat, aber sich davon nicht hat abschrecken lassen, weil er trotz des (teilweisen) Unverständnisses etwas erlebt hat, wer sich immer weiter um ein Verständnis bemüht, der wird bemerken können, dass die Fensterläden langsam aufgehen. Der wird auch bemerken können, dass sich die ganze Art und Weise wie man denkt, wenn man sich mit Rudolf Steiners Schriften beschäftigt, verändert. Und diese andere Art zu denken, sie kann sich wie ein Muskel durch entsprechendes „Training“ weiter kräftigen und dann zu einem geistigen, d.h. übersinnlichen Wahrnehmungsorgan entwickeln, durch das wir individuell Impulse für unser Handeln erhalten, d.h. wahrnehmen können. Diese individuellen ethischen Impulse nennt Rudolf Steiner auch die „moralische Phantasie“, weil sie nun nicht von außen, sondern aus unserem Innenleben stammen.
Das Feuer der Liebe zur Tat entzünden
Doch wie sieht es mit der Umsetzung dieser Impulse aus, wo und wie finden wir die Kraft sie in Taten umzusetzen? Es muss noch etwas Weiteres dazu kommen und dieses Weitere nennt Rudolf Steiner die „reine große Liebe“, die den Menschen von innen heraus beflügeln muss, damit er die Kraft hat, seine Intuitionen, seine individuellen Impulse zur Tat werden zu lassen. Und wenn das „Feuer der Liebe“ sich nicht aus den Tiefen der Seele mit den Taten verbinden kann, wird der Mensch sich schwach und willenlos fühlen. In früheren Zeiten konnte sich der Mensch noch mit Taten verbinden, die ihm von außen „aufgetragen“ wurden, diese Zeiten sind jedoch jetzt vorbei. Das können wir heute gut beobachten: Wo sich ein Mensch nicht aus Liebe mit dem verbindet, was er tut, sondern aus Pflichtgefühl, aus dem Streben nach Anerkennung, wegen des Geldes, des Ansehens oder aus Angst heraus tätig wird, wird er einerseits manipulierbar, d.h. willenlos und andererseits kraftlos und brennt aus.
„In Zukunft wird die reine, große Liebe von innen heraus den Menschen beflügeln müssen zu dem, was Ausführung seiner sittlichen Intuitionen wird sein müssen; und diejenigen Menschen werden sich schwach und willenlos fühlen gegenüber den sittlichen Intuitionen, die nicht aus den Tiefen ihrer Seele heraus das Feuer der Liebe für das Sittliche entzünden, wenn ihnen durch ihre moralische Intuition die Tat, die geschehen soll, vor Augen steht.“[6]
Menschenvertrauen als Kraft
Nun kann die nächste Frage entstehen: Wenn jeder Mensch aus seinen moralischen Intuitionen heraus handelt, wie kann es denn dann noch ein soziales Miteinander geben? Welche Kraft kann dann noch für einen Zusammenhalt der Gesellschaft sorgen, um den sich aktuell so viel gesorgt wird? „Eine solche Kraft ist das Vertrauen, das Vertrauen von Mensch zu Mensch.“[7], so Rudolf Steiner. Das scheint nun wirklich harter „Tobak“ zu sein. Wie sehr ist dieses Vertrauen von Mensch zu Mensch in den letzten Jahren tief erschüttert worden? Ja, sagt Rudolf Steiner, ja, das wird so sein: „Das wird in der Zukunft das Bitterste im Leben werden, wenn man von Menschen enttäuscht wird.“[8] Glück und Schmerz liegen gerade in dieser Beziehung eng beieinander. Glück des Vertrauens einerseits und Schmerz über notwendiges (!) Misstrauen andererseits. Diese Erfahrungen wird wohl jeder schon in seinem Leben gemacht haben. Gerade Rudolf Steiner hat sehr oft in dieser Hinsicht auch sehr bittere Erfahrungen gemacht - ohne den anderen daraus schwere Vorwürfe zu machen.
Das Kind als Rätsel
Vertrauen in den Menschen wird für die Zukunft der Menschheit trotz aller Enttäuschungen und Schmerzen unerlässlich sein und eine Pädagogik der Zukunft kann nur auf Vertrauen aufgebaut werden, auf Vertrauen in den sich entwickelnden Menschen. Dieses Vertrauen kann seinen Boden, seinen Grund darin finden, dass in den Kindern ganz besonders offenbar wird, dass sich ein geistiges Schöpferwesen mit einem physischen Leib verbunden hat. Dass wir nicht allein einen physischen Menschen vor uns haben, sondern ein Rätsel vor uns steht, das wir zu lösen haben, wie Rudolf Steiner oft so schön sagt. Jedes Kind gibt uns Pädagogen von Neuem ein Rätsel auf und jedes einzelne Kind gibt uns immer wieder neue Rätsel auf, auf die wir nicht eine Antwort finden werden, sondern die uns immer weiter beschäftigen können. Was bedeutet das für die Pädagogik?
Unterricht wird zum Weihedienst
„… dem Kinde, das uns die göttlich-geistigen Kräfte heruntergeschickt haben, dem wir als diejenigen gegenüberstehen, die die Rätsellöser sein sollen, stehen wir gegenüber mit Gottvertrauen. Ja, dem Kinde gegenüber verwandelt sich das Menschenvertrauen sogar in Gottvertrauen.“ [9] Gottvertrauen gegenüber dem Kind, in dem sich von Tag zu Tag zeigt, wie sich „Seelisch-Geistiges in der Durchdringung des Physischen offenbart“[10], Gottvertrauen, das sich aus einer tiefen Menschenerkenntnis*[11] entwickelt und untrennbar verbunden ist mit dem Bewusstsein davon, dass das Kind ein vorgeburtliches Leben hatte. In diesem Bewusstsein mit den Kindern zusammen zu sein, mit diesem Bewusstsein Kinder zu unterrichten, führt zu Empfindungen, die das Miteinander mit den Kindern grundlegend verändern können. Im Lehrerkurs 1919, vor Beginn der ersten Waldorfschule, hat Rudolf Steiner dies so ausgedrückt: „Indem wir so an die großen Tatsachen in der Welt anknüpfen, bekommen wir erst auch das richtige Verständnis für den Unterricht. Das kann ihm erst die richtige Weihe geben, so daß wirklich der Unterricht eine Art Gottesdienst werden könnte, indem er ein solcher Weihedienst wird.“[12]
[1] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 87 - 99 [2] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217
[3] Antje Bek, Kinder sind Boten des lebendigen Denkens [4] Rudolf Steiner, Der Tod als Lebenswandlung, GA 182, S. 59 f. [5] Gunter Gebhard, „Lebendiges Denken" - „Leibfreies Denken" - Eine Gedankenskizze [6] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 91 [7] ebd. S. 94 [8] ebd. [9] ebd. S. 97 [10] ebd. [11] * Die Vorträge im ersten Lehrerkurs 1919 verfolgten eben dieses Anliegen. [12] Rudolf Steiner, Methodisch-Didaktisches, GA 294, S. 50 Foto: Julia Cheperis / Unsplash
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