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  • AutorenbildAntje Bek

Kinder sind Boten des lebendigen Denkens!

Was bedeutet das für den naturwissenschaftlichen Unterricht und die Zukunft von Mensch und Natur?




Fünfter Vortrag vom 7. Oktober 1922[1]

Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs[2]


Vorbemerkung: Vor hundert Jahren sprach Rudolf Steiner in Stuttgart vor jungen Menschen, die zum größten Teil mit der Anthroposophie nicht vertraut waren. Worüber er damals sprach, scheint heute aktueller und brennender denn je zu sein. Daher habe ich mich entschlossen, eine kleine Serie zu beginnen. Je Beitrag möchte ich in der entsprechenden Reihenfolge auf einen der dreizehn Vorträge Rudolf Steiners eingehen. Es werden jeweils nur ausgewählte Gesichtspunkte der Vorträge behandelt, die in mir besondere Resonanz gefunden haben. Mit ist durchaus bewusst, dass dadurch andere wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. Wenn sich Menschen angeregt fühlten, dann selbst den erwähnten Vortrag zu lesen, wäre es mir eine große Freude! Den Link zum Vortrag findet man unten.


Im fünften Vortrag des Jugendkurses kommt Rudolf Steiner noch einmal auf Themen und Aspekte zurück, die er in den vorausgegangenen Vorträgen bereits angeschlagen hat, so etwa auf die Begriffe des toten und lebendigen Denkens.

Waldorflehrer im Publikum

Hilfreich zu wissen ist, dass während der Vortragsreihe des später so genannten „Pädagogischen Jugendkurses“ nicht nur junge interessierte Menschen anwesend waren, sondern auch das Kollegium der drei Jahre zuvor gegründeten ersten Waldorfschule. Einige hatten an Rudolf Steiners zweiwöchigem „Intensivkurs“ für Waldorflehrer teilgenommen, der im August/September 1919 stattgefunden hatte und die zukünftigen Lehrer auf ihre Aufgaben vorbereiten sollte.[3] Unausgesprochen nimmt er in seinem Vortrag vom 7. Oktober 1922 Bezug auf wichtige Gesichtspunkte seiner damaligen Vorträge, um sie noch einmal auf andere Art und Weise zu formulieren bzw. zu vertiefen.


Lebendiges Denken und der Leichnam des Menschen

Einer dieser Gesichtspunkte ist die Frage nach dem lebendigen und dem toten Denken. Rudolf Steiner verwendet wiederum ein Bild, um zu erläutern, was er mit diesen Begriffen meint. Er beginnt mit der Form des menschlichen Leibes. Die Form eines menschlichen Leibes ist für eine gewisse Zeit noch nach dem Tod des betreffenden Menschen an seinem Leichnam zu erkennen. Diese Form kann jedoch nicht unabhängig von dem lebendigen Menschen gedacht werden, der diesen Leichnam zuvor gebildet hat. Wir können uns innerlich ein Bild davon machen, wie sich die Form des Körpers durch das ganze Leben hindurch verändert, wenn wir uns das Kind anschauen oder wenn wir beim selben Menschen seine Leibesform im mittleren oder hohen Alter betrachten. Die Form des Leichnams ist also einzig und allein darauf zurückzuführen, dass der lebendige Mensch in ihm tätig war. Ohne das Leben hätte sich die tote Form nicht bilden können, der Leichnam stammt vom lebendigen Menschen ab.


Totes Denken und vorgeburtliches Leben

Das tote wissenschaftliches Denken ist in diesem Sinne ebenso auf etwas Vorangegangenes zurückzuführen. Mit „Denken“ meint Rudolf Steiner nicht die Gedanken selbst, sondern die Tätigkeit, die unseren Gedanken die Form gibt, so wie der Mensch dem Leichnam die Form gegeben hat. Wie der Leichnam von etwas Lebendigem abstammt, muss auch unser heutiges totes Denken von etwas abstammen, das zuvor lebendig war. „Das tote Denken muss abstammen von einem lebendigen, das vor unserer Geburt vorhanden war.“[4] Im zweiten Vortrag der „Allgemeinen Menschenkunde“[5], die zum erwähnten Lehrerkurs gehört, hatte Rudolf Steiner bereits drei Jahre zuvor über diesen wichtigen Aspekt gesprochen. Nun verwendet Rudolf Steiner im „Jugendkurs“ noch ein zweites, sehr drastisches Bild: „Der physische Organismus ist das Grab des lebendigen Denkens, der Behälter des toten Denkens.“ So wie der Körper des erstorbenen Menschen in einen Sarg gelegt wird, so wird unser zuvor lebendiges Denken als totes Denken in unseren physischen Leib versenkt, dieser wird zum Behälter des toten Denken. Dadurch, dass wir vor unserer Geburt im lebendigen Denken gelebt haben und unser irdisches Denken davon ein Abbild ist, (so wie unser Spiegelbild nicht wir selbst, sondern ein Abbild von uns ist), nur dadurch haben wir überhaupt die Möglichkeit auf dieser Erde, in unserem physischen Leib zu denken. Jüngere Kinder leben noch im Nachklang ihrer vorgeburtlichen Erlebnisse, ihres vorgeburtlichen Aufenthaltes in der geistigen Welt; dadurch ist ihr Denken für eine gewisse Zeit noch wesentlich lebendiger als das der Erwachsenen. Im Jugendkurs spricht Rudolf Steiner davon, dass dieses noch nicht ganz tote Denken bis zur Geschlechtsreife erhalten bleibt!


Bildhaftes Denken der Kinder

Wie können wir das konkret wahrnehmen? Wer kleinen Kindern bildhafte Geschichten erzählt, wird unmittelbar wahrnehmen können, dass sie wie „gebannt“ zuhören, dass es mucksmäuschenstill in der Gruppe oder Klasse wird und sie mit ganzer Seele in diesen Bildern leben. Wer Jugendlichen z.B. menschliche Historie durch bildhafte Schilderungen aus dem Leben großer Persönlichkeiten nahe zu bringen versucht, kann erleben, dass auch sie noch von diesen Erzählungen ergriffen werden. Aber man kann ebenfalls bemerken, dass es ihnen bereits wesentlich schwerer fällt in diese Bilder einzutauchen, dass sie mehr Zeit benötigen, um in die Erzählung hineinzufinden, dass die Fähigkeit zur Schaffung von inneren Bildern abebbt zugunsten der Fähigkeit abstraktere Zusammenhänge oder Gedankengänge begreifen zu können.


Pfahl ins Herz der Jugend

Es soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass dies ein wichtiger, natürlicher Entwicklungsprozess für die Menschheit war und in gewissem Sinne für die Entwicklung des einzelnen Menschen ist, der einem erst die Fähigkeit zur Freiheit im weiteren Verlauf des Lebens ermöglicht. Es geht nicht darum diesen Prozess zu verhindern, sondern – und das gilt zunächst eben insbesondere für die Lehrer – totes Denken durch eigene innere Aktivität wieder zum Leben zu erwecken. Wenn dies nicht geschieht, dann hat das Konsequenzen für die seelische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, die Rudolf Steiner im Jugendkurs wiederum mit einem drastischen Bild verdeutlicht: „…wenn die steif gewordene objektive Wissenschaft an das Lebendige, an das Jugendliche herankommt, (wird) diese Jugend das wie ein Hereinstoßen eines Pfahles ins Fleisch fühlen. Man stieß ihr einen Pfahl ins Herz, den Tod, und sie soll sich aus ihrem Herzen das Lebendige herausreißen.[6]


Verzweiflung der Jugend

Heute können wir sehen, was es für junge Menschen heißt, wenn sie diesen Pfahl im Herzen empfinden, wenn sie sich das Lebendige aus ihrem Herzen herausgerissen haben, weil sie es sollten. Im schlimmsten Falle verzweifeln sie am Leben, verzweifeln sie an der Art und Weise wie der Mensch heute mit der lebendigen Schöpfung und dem Mitmenschen umgeht und sehen keinen anderen Ausweg mehr, als ihr eigenes Leben zu beenden, weil sie sich von der anderen Seite das erhoffen, was sie hier nicht wieder-finden können. Auch Erscheinungen wie etwa die jüngsten zerstörerischen Aktivitäten der „Letzten Generation“, welche durch ihren Namen den bevorstehenden Tod der Menschheit impliziert und diesen durch ihre Aktionen verhindern möchte, könnte man einmal unter diesem Aspekt betrachten und sich fragen, inwiefern sie ein - sogar willkommenes - „Produkt“ unserer heutigen Bildung sind.


"Unterricht" in der Natur

Welche Konsequenzen das von Rudolf Steiner Gemeinte für die Pädagogik hat, erläutert er an einem Beispiel, über das er am Ende des dritten Vortrages „Methodisch-Didaktisches“[7], ebenfalls zum Lehrerkurs von 1919 gehörig, ausführt. Es geht dabei um den naturkundlichen, den „Biologie“-Unterricht. Rudolf Steiner spricht darüber, wie wichtig es ist, die Kindern für diesen Unterricht auch in die Natur hinauszuführen, Pflanzen und Tiere nicht nur im Klassenzimmer zu behandeln. Dabei ist eines jedoch sehr, sehr entscheidend: In der Natur, da solle man die Kinder die Natur erleben lassen, da solle man sie aufmerksam machen auf die Schönheit der Natur, da solle man z.B. Freude in ihnen hervorrufen, wenn sie einen Käfer beobachten, „…Freude an seinem Laufen, an seiner Possierlichkeit, an seinem Verhältnis zur übrigen Natur…[8] Bemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass es eben ab dem Schulalter nicht mehr ausreicht, dass sich Kinder in der Natur lediglich bewegen, arbeiten oder aufhalten, sondern dass es notwendig wird, Gefühle für die Natur in ihnen zu erwecken, in gewisser Weise zu Bewusstsein zu bringen, damit die beim sehr kleinen Kind naturgegebene innere Verbindung mit der Umgebung jetzt nicht abreißt.*[9]


Unterricht in Innenräumen

Scharf getrennt von diesem mit Gefühlen verbundenem Erleben der Natur, solle dann im Klassenzimmer der eigentliche naturkundliche Unterricht stattfinden. Dieser naturkundliche Unterricht sollte gerade nicht in der Natur stattfinden! Im Klassenzimmer führen wir den Kindern z.B. Pflanzen vor und besprechen diese, die tote Natur sollte also nur im Klassenzimmer zergliedert werden. Dies solle man auf eine Art und Weise tun, die in den Kindern wiederum „eine Art Gefühl“[10] hervorruft, eine Art Bedauern darüber, dass wir die Natur zergliedern, dass wir z.B. eine einzelne Pflanze aus ihrem Zusammenhang mit der Erde, den sie umgebenden Pflanzen und Tieren, sowie den kosmischen Einflüssen herausreißen; dass die Kinder dieses Zergliedern, ja Zerstören jedoch auch als eine Notwendigkeit empfinden lernen, weil eben wir Menschen, z.B. durch unsere Ernährung, Natürliches zerstören müssen, um unseren eigenen Leib aufzubauen und zu erhalten.


Gefühle für die Natur und zergliederndes Erkennen

Es ist deutlich zu erkennen, dass Rudolf Steiner den Kindern das zergliedernde, in gewissem Sinne zerstörerische naturwissenschaftliche Denken nicht vorenthalten möchte. Dass es ihm aber darum geht, beides nicht zu vermischen bzw. das eine vom anderen nicht erdrücken zu lassen. Vor allem den jüngeren Kindern, die noch viel stärker in einem lebendigen Denken beheimatet sind, soll hauptsächlich das gefühlsmäßige Erleben der Natur ermöglicht werden. In der Natur sollen sie daher all die Gefühle, die mit der lebendigen Natur zusammenhängen, erleben dürfen. Liebe zur Schönheit der Natur, Freude an der Natur soll den Kindern durch die Lehrer ins Bewusstsein gehoben werden. Das ergänzende Erkennen der „zergliederten“ Natur durch den „objektiven“ naturwissenschaftlichen Unterricht hat dann im Klassenzimmer ab einem bestimmten Alter seinen eigenen Platz.


 

[1] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 73 -87 [2] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217 [3] s. Rudolf Steiner, GA 293, 294 und 295 [4] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 80 [5] Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde, GA 293 [6] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 82 [7] Rudolf Steiner, Erziehungskunst, Methodisch-Didaktisches, GA 294 [8] ebd., S. 51 [9] * Dies als kurzer Hinweis, der noch weiter ausgeführt werden müsste, darauf inwieweit die sehr guten und auch positiven Ansätze der Handlungspädagogik noch erweitert werden könnten, wenn die reine Handlungsebene, die den Willen stärkt, durch die Entwicklung eines entsprechenden Gefühlslebens im Zusammenhang mit der Natur ein zukunftsfähiges Verhältnis zur Natur erst ermöglicht. [10] Rudolf Steiner, Erziehungskunst, Methodisch-Didaktisches, GA 294, S. 50




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