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  • AutorenbildAntje Bek

Vom Durst der Seele - Die Suche nach Licht



Vierter Vortrag vom 6. Oktober 1922[1]

Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs[2]


Vorbemerkung: Vor hundert Jahren sprach Rudolf Steiner in Stuttgart vor jungen Menschen, die zum größten Teil mit der Anthroposophie nicht vertraut waren. Worüber er damals sprach, scheint heute aktueller und brennender denn je zu sein. Daher habe ich mich entschlossen, eine kleine Serie zu beginnen. Je Beitrag möchte ich in der entsprechenden Reihenfolge auf einen der dreizehn Vorträge Rudolf Steiners eingehen. Es werden jeweils nur ausgewählte Gesichtspunkte der Vorträge behandelt, die in mir besondere Resonanz gefunden haben. Mit ist durchaus bewusst, dass dadurch andere wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. Wenn sich Menschen angeregt fühlten, dann selbst den erwähnten Vortrag zu lesen, wäre es mir eine große Freude! Den Link zum Vortrag findet man unten.


Moral – Ideal – Wahrheit, um diese drei Begriffe geht es Rudolf Steiner in einem vierten Vortrag für junge Menschen. Wie aktuell kann es doch erscheinen sich mit diesen Begriffen und ihrer Beziehung zur menschlichen Seele zu beschäftigen!


Man kann sich zunächst einmal vorstellen, unter welchen Moralvorstellungen die Menschen vor 100 Jahren gelebt haben, was ein uneheliches Kind bedeutete, was eine Ehe, wie die Rolle der Frau verstanden wurde usw. Es gab fest gefügte Moralvorstellungen. Von den genannten hat sich unsere Gesellschaft inzwischen befreit, ein großer Fortschritt, sicherlich.


Moral und Gesellschaft

Rudolf Steiner erläutert in seinen Ausführungen wie sich der Begriff der Ethik bzw. „Moral“ entwickelt hat. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde wissenschaftlich festgestellt (was allerdings nur das "Thermometer" für das war, was auch in vielen Menschen als Überzeugung lebte), dass der Mensch aus sich selbst heraus, aus seiner Seele heraus keine Moral entwickeln kann. Da man innerlich vor dem Nichts stand, gab es dort keinen Anhaltspunkt für die Entwicklung einer Ethik. Der einzelne Mensch würde sich also daran orientieren, welche allgemeinen Regeln in seiner Kultur, in seiner Gesellschaft existieren und sein eigenes Verhalten sowie die Beurteilung des moralischen Verhaltens eines anderen Menschen von diesen allgemein gültigen Regeln abhängig machen (müssen).


Wir können uns fragen, ob diese Überzeugung heute tatsächlich schon überwunden ist oder ob wir nicht aktuell in gewissem Sinne diesbezüglich eine „Renaissance“ erleben. Was ist – scheinbar allgemein anerkannt - „erlaubt“, was ist „verboten“ zu denken, zu sagen, zu tun. Wie werden diejenigen moralisch be- und verurteilt, die sich an entsprechende Vorgaben nicht halten?


Ethik und Menschenwürde

Rudolf Steiner widerspricht dieser Auffassung des Moralbegriffs entschieden, er weist dabei u.a. auf sein Buch „Philosophie der Freiheit“ hin, das er geschrieben habe, weil er zeigen wollte, dass die moralischen Impulse in der jetzigen Zeit nur aus der menschlichen Seele selber kommen können, ja müssen. Die Zukunft der menschlichen Ethik hänge davon ab, dass gerade die „moralischen Intuitionen“ immer stärker werden. Der Begriff der „Intuition“, wie ihn Rudolf Steiner gewöhnlich verwendet, hat Anklänge an unser alltägliches Verständnis, geht aber noch darüber hinaus. Es ist damit die Fähigkeit gemeint, mit einem geistigen Wesen eins werden zu können, wie in diesem Wesen leben zu können. Was bedeutet das nun, wenn ich einem anderen Menschen begegne? Es bedeutet, dass es unmöglich ist an einen Menschen allgemein gültige moralische Maßstäbe anzulegen, da der Mensch ein geistiges Wesen ist und Geist sich immer individualisiert. Daher ist es so wichtig, dass wir uns darin üben mit offenem Herzen einem anderen Menschen zu begegnen, bei jedem Menschen ein neues „Menschengefühl“ entwickeln. Mit jeder Definition, mit jeder allgemeinen „So-soll-er-sein-Regel“ setzen wir uns eine Brille auf, die verhindert, dass wir den individuellen Menschen überhaupt sehen können. Allgemein gültige, abstrakte Vorstellungen davon, was moralisch und was unmoralisch ist, können also nur zur Unmenschlichkeit führen! Sie werden dem geistigen Wesen des Menschen, der Würde des Menschen nicht gerecht. Gerade das können wir in der Gegenwart sehr deutlich erleben.


Moral und Pädagogik

In diesem Zusammenhang kommt Rudolf Steiner auf eine zentrale Aufgabe der Pädagogik zu sprechen. Es gehe darum, dass in Zukunft die Kraft der moralischen Intuition immer größer und größer werde. Das bedeutet für die Pädagogen, für Eltern und Lehrer, dass auch ein Kind nur aus sich selbst heraus verstanden werden kann. Immer wieder gibt Rudolf Steiner in seinen pädagogischen Vorträgen Hinweise darauf, was wir tun können, welche Gedanken hilfreich sind, damit wir mit den Kindern wirklich „eins“ werden können und dadurch selbst intuitionsfähig. Wir handeln, wir unterrichten dann aus den Kindern heraus. Auf diese Weise – so Rudolf Steiner in seinem Vortrag vor 100 Jahren – würden wir den kindlichen Seelen helfen, dass sie sich innerlich ihrer eigenen moralischen Intuitionen bewusst werden, die in jeder menschlichen Seele leben. Den Kindern wird nicht von außen „Moralität“ eingepflanzt, sondern sie erhalten Nahrung, damit ihnen ihre individuellen seelischen Impulse zu Bewusstsein kommen können. Es geht also bei der Frage einer individualisierten Moral nicht um Beliebigkeit, sondern um die Frage, was liegt denn auf dem Grunde jeder einzelnen menschlichen Seele, es geht um einen individuellen Bewusstseinsprozess.


Sehnsucht nach dem anderen Menschen

Rudolf Steiner bettet die Frage nach den moralischen Intuitionen in den noch umfassenderen Begriff der „Ideale“ ein. Die Menschheit wäre Ende des 19. Jahrhunderts diesbezüglich an einen Nullpunkt gekommen. Er verwendet an dieser Stelle wieder ein hilfreiches Bild. Früher hatten die Menschen noch genügend Brennstoff, durch den sie ihren Geist anzünden konnten. Mit diesem entzündeten Geist konnten sie dann sowohl die Natur als auch das eigene Menschenleben durchleuchten. Dieses Licht fehlt nun, das Feuer muss heute vom einzelnen Menschen selbst entzündet werden. Die kalten Gedanken des Intellektualismus, wie sie in der Wissenschaft, die rein auf Beobachtung und Experiment gründen, entwickelt werden, können dieses Feuer in der Seele des Menschen nicht entzünden. Zum wiederholten Male weist Rudolf Steiner aber darauf hin, dass dies auch so sein muss, damit sich die Menschheit Freiheit erringen kann. Durch den erlebten Mangel könne ein Durst in der Seele entstehen, der sich in der Sehnsucht aussprechen kann den anderen Menschen wirklich zu finden. „Ich dürste nach etwas, und alles, was mir aus intellektualistischen Untergründen aus der Welt entgegentritt, gibt mir nicht Wasser für diesen Durst.“[3]


Ehrlichkeit und Wahrheit

An dieser Stelle kommt er schließlich auf den Begriff der Wahrheit zu sprechen, dass es notwendig ist sich bestimmte Dinge ganz ehrlich einzugestehen, wenn der Mensch in seiner Entwicklung fortschreiten möchte. Er sagt nun der vor ihm sitzenden Jugend ganz direkt, dass es gut sei, wenn sie sich selbst eingestehen würden, dass die von ihnen geäußerten Worte und Forderungen eigentlich auch nur aus einem „sich überschlagenden Intellektualismus“[4] bestehen würden, wie Blasen, die fortwährend zerplatzen. Und ich denke, dass wir heute alle, jeder von uns, durch dieses Denken geprägt sind, dass wir es uns auch selbst eingestehen können und uns freuen dürfen, wenn wir diesbezüglich Veränderungen an uns selbst und an anderen bemerken!


Zum Ende des Vortrages appelliert er noch einmal: „Die Seele ist am ähnlichsten dem Geiste, daher kann sie ihn finden, wenn sie will. (…) Wir müssen zu der Geistigkeit des Handelns, wir müssen zu dem unmittelbaren Erlebnis der Menschen untereinander und zum ehrlichen Erlebnis der Wahrheit kommen.“[5]


 

[1] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation Pädagogischer Jugendkurs Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 54 – 72 [2] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217 [3] ebd. S. 70 [4] ebd. S. 71 [5] ebd. S. 72

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