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  • AutorenbildAntje Bek

„Macht die Fensterladen auf!"


Rudolf Steiners Pädagogischer Jugendkurs [1]

Erster Vortrag vom 3. Oktober 1922 [2]



Vorbemerkung: Vor hundert Jahren sprach Rudolf Steiner in Stuttgart vor jungen Menschen, die zum größten Teil mit der Anthroposophie nicht vertraut waren. Worüber er damals sprach, scheint heute aktueller und brennender denn je zu sein. Daher habe ich mich entschlossen, eine kleine Serie zu beginnen. Je Beitrag möchte ich in der entsprechenden Reihenfolge auf einen der dreizehn Vorträge Rudolf Steiners eingehen. Es werden jeweils nur ausgewählte Gesichtspunkte der Vorträge behandelt, die in mir besondere Resonanz gefunden haben. Mit ist durchaus bewusst, dass dadurch andere wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. Wenn sich Menschen angeregt fühlten, dann selbst den erwähnten Vortrag zu lesen, wäre es mir eine große Freude! Den Vortrag findet man hier


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Mit einem Bild, das Rudolf Steiner am Ende dieses Vortrages verwendet, soll begonnen werden. Er spricht über Goethe und dessen angeblich letzten Worte, verstanden als Ruf an seine Nachwelt: „Mehr Licht!“ Diese Worte entsprächen nicht der Wahrheit und seien letztlich zu einer reinen Phrase geworden. In Wahrheit hätte Goethe in einem Liegestuhl gelegen, schwer geatmet und gerufen: „Macht die Fensterladen auf!“ Und dieser Spruch sei vielleicht im Sinne eines Rufes an seine Nachwelt besser zu gebrauchen. [3]


Was meint Rudolf Steiner damit? Er macht den vor ihm sitzenden jungen Menschen deutlich, dass ihnen eine Generation vorangeht, die in einer völlig anderen seelischen Verfassung lebt, als sie selbst, ein tiefer Graben tue sich auf. Die alte Generation hat die Fensterläden zugemacht, was in gewissem Sinne Folge einer notwendige Entwicklung über mehrere Jahrhunderte hinweg war, wie sie von Rudolf Steiner in diesem Vortrag ausführlicher beschrieben wird. Es wurde dunkel und es fehlt die frische Luft zum Atmen. Die junge Generation, die mit einer ganz anderen Seelenkonfiguration geboren wurde, spürt in sich eine Sehnsucht, diese Fensterläden wieder zu öffnen. „Mehr Licht!“ kommt jedoch nicht „von alleine“ herein, sondern dazu ist eine Aktivität notwendig, eine Aktivität der eigenen Seele, die diese Fensterläden wieder zu öffnen vermag.


Seelenprüfungen

Rudolf Steiner beschreibt in welche äußere Situation die jungen Menschen hineingeboren wurden, ohne Anklage, aber mit klarem Blick. Im Jahre 1922, als er diesen Vortragszyklus hielt, war der erste Weltkrieg gerade drei Jahre vorüber. Die Menschen, die vor ihm saßen, hatten dieses Geschehen als junge Menschen miterlebt, manche mögen selbst als Soldaten dabei gewesen sein. Was hatte das mit ihren Seelen gemacht? „Ich kann Ihnen zunächst nur einige Empfindungen schildern, um zu zeigen, was da alles in chaotischer Weise durcheinanderstrebte, als das zwanzigste Jahrhundert herankam, jenes Jahrhundert, das Sie, meine jüngeren Freunde, vor harte innere Seelenprüfungen gestellt hat.“ [4]


Harte, innere Seelenprüfungen – wie sieht es diesbezüglich heute für die jungen Menschen aus, die mit ihren individuellen Impulsen auf die Erde gekommen sind? Was bedeutet es für einen jungen Menschen, der sein Leben – wenn auch vielleicht nur schemenhaft und undeutlich – vor sich sieht und nun feststellen muss: So, wie ich immer dachte, wird das Leben nicht weitergehen. Dem, was ich machen wollte, was ich an Impulsen in mir trage, stellen sich unerwartete, bis dato unvorstellbare Hindernisse entgegen? Welche Seelenprüfungen haben junge Menschen während der Zeiten von Lockdowns, der Ausgrenzung von Ungeimpften etc. durchmachen müssen? Einige mehr als sonst „üblich“ haben diese Seelenprüfungen nicht überwinden können und ihrem Leben ein Ende gesetzt. Welche Prüfungen mögen ganz aktuell wohl junge russische und ukrainische Seelen durchleben?


Äußeres als Ausdruck des Inneren

Und dann beschreibt Rudolf Steiner, dass die Ereignisse des ersten – wie er es nennt – „furchtbaren, grausigen“ Weltkrieges ja nur der Ausdruck dafür sind, was in den Seelen der Menschen generell herrscht. So können auch wir all die Ereignisse der letzten Jahre, aber auch die aktuellen Geschehnisse auf diese Weise betrachten: Sie sind Ausdruck dessen, was in den Seelen der Menschen lebt, sie zeigen uns im Außen ein Inneres.


Die Fensterläden sind zu!?


Eigener Standpunkt und menschliche Gemeinschaft

Welche innere Verfassung der Menschheit zeigt sich im Außen und was bedeuten in diesem Zusammenhang geschlossene Fensterläden? Es geht um die Beziehung von Mensch zu Mensch. In dieser Hinsicht wird jeder von uns Situationen erlebt haben, wo ihm das ganz deutlich wurde, sei es, dass er sich selbst unverstanden fühlte, sei es, dass er einen anderen nicht verstehen konnte. „Das meiste Interesse hat jeder Mensch nur an sich selber.“ [5] Diesen Satz erläutert Rudolf Steiner auch wieder mit Hilfe eines Bildes: So lange wir uns in der physischen Welt bewegen, steht jeder auf einem anderen Fleckchen Erde und sieht von dieser gemeinsamen Erde einen anderen Ausschnitt. Jeder hat seinen eigenen, berechtigten Standpunkt, und obwohl jeder etwas anderes sieht, von seinem Standpunkt aus eben, gehört doch alles, was wir als individuelle Menschenwesen sehen, einer Welt an. Und mit genügend „Herz und Willen“ könnte sich jeder von uns doch leicht auch auf den Standpunkt des anderen stellen und von dort aus die Welt betrachten. Doch an diesem Herz und Willen fehle es heute. Jeder hat seinen „Standpunkt“, jeder hat seine Meinung und macht dadurch den Fensterladen zu, indem er sich von seinem Nebenmenschen abschließt. Er macht sich nicht auf den Weg, fasst sich kein Herz, die Welt einmal von dessen Standpunkt aus zu betrachten in dem Bewusstsein, dass auch dessen Blick zu einer gemeinsamen Welt gehört, dass es neben der physischen Welt auch eine gemeinsame geistige Welt gibt. Der Historiker Daniele Ganser rät z.B., dass man bei hitzigen Diskussionen dem anderen sagt: „Du hast ja auch ein wenig Recht.“ Darin spricht sich aus, dass auch der Blick des anderen auf die Welt zu einer gemeinsamen Welt dazu gehört, auch wenn ich ihm gar nicht zustimme.


Sehnsucht nach Wahrheit und Herzhaftigkeit des Geisteslebens

Rudolf Steiner geht noch einen Schritt weiter. Er hat das in seiner Autobiographie „Mein Lebensgang“ [6] an vielen Beispielen eindrucksvoll geschildert. Er konnte sich so ganz auf die Gedankenart, die Gedankengänge seiner Mitmenschen einlassen, er konnte aus tiefstem Herzen verstehen, dass sie so denken mussten aufgrund ihrer ganzen Wesensart. Wir könnten unseren eigenen Standpunkt vorübergehend verlassen und uns dadurch ganz in das Wesen des anderen Menschen hineinfinden, um uns von Herz zu Herz zu begegnen. Dadurch könnte in Zukunft wahre menschliche Gemeinschaft ermöglicht werden. Rudolf Steiner erinnert die jungen Menschen daran, dass genau das als Sehnsucht in ihren Seelen sitzt und er sagt, dass sich diese Art der Sehnsucht in der Zukunft noch verstärken würde: Wahrheit in der menschlichen Begegnung zu erleben, jenseits von Phrase, Routine und Konvention. Aufgrund der Sehnsucht nach „Herzhaftigkeit des ganzen Geisteslebens“ lebte in den damals jungen Menschen die Frage, wo sie diese Art der menschlichen Gemeinschaft denn finden könnten? Diese Frage ist heute so aktuell wie damals.


Wie schwer ist es in der jetzigen Zeit – insbesondere für junge Menschen - in diesem Sinne wahre menschliche Gemeinschaft zu erleben, in einer Zeit, wo es viele Gedanken gibt, die man nicht mehr äußern „darf“? Wo schon Pädagogen, Ausbilder oder Dozenten, die kritisch über die vielfältigen Aspekte des aktuellen Zeitgeschehens denken, dies nur indirekt – wenn überhaupt – gegenüber den jungen Menschen äußern können? Dies nur als ein Beispiel. Wie viel Phrase, d.h. Unwahrhaftigkeit lebt auch schon zwischen jungen Menschen, wie viel zwischen älteren Erwachsenen und verhindert dadurch echte menschliche Gemeinschaft, nach der sich heute im Grunde jeder Mensch sehnt?


 

Weitere Zitate, die mich berührt haben:

"Und wo die Phrase zu herrschen beginnt, da erstirbt die innerlich seelisch erlebte Wahrheit. Und mit der Phrase geht einher ein anderes: Der Mensch kann den Menschen nicht mehr finden im sozialen Leben."[i]


„Aber das Wertvollste ist, wenn die Gedanken ein Herz haben.“ [ii]


„Am schwierigsten hat es in dieser Beziehung derjenige, der heute versucht, aus seiner gelehrten Bildung heraus sich in die Zeit hineinzufinden. Was sich dem darbietet, das sind die ganz bewußt als «herzlose» Gedanken angestrebten Gedanken.“ [iii]


„Mit Bewahrung des Herzblutes muß man Licht finden können.“ [iv]



Ich danke Bettina von Herzen für ihre Anregungen!


 

[1] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation Pädagogischer Jugendkurs Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217

[2] ebd. S. 15 – 26

[3] ebd. S. 25 f. [4] ebd. S. 23 [5] ebd. S. 20 [6] Rudolf Steiner, Mein Lebensgang, GA 28, https://ia803008.us.archive.org/12/items/rudolf-steiner-ga-028/rudolf-steiner-ga-028.pdf


 

[i] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation Pädagogischer Jugendkurs Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 19. S. 19 [ii] Ebd. S. 21 [iii] Ebd. S. 22 [iv] Ebd. S. 25

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