Dritter Vortrag vom 5. Oktober 1922[1]
Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs[2]
Vorbemerkung: Vor hundert Jahren sprach Rudolf Steiner in Stuttgart vor jungen Menschen, die zum größten Teil mit der Anthroposophie nicht vertraut waren. Worüber er damals sprach, scheint heute aktueller und brennender denn je zu sein. Daher habe ich mich entschlossen, eine kleine Serie zu beginnen. Je Beitrag möchte ich in der entsprechenden Reihenfolge auf einen der dreizehn Vorträge Rudolf Steiners eingehen. Es werden jeweils nur ausgewählte Gesichtspunkte der Vorträge behandelt, die in mir besondere Resonanz gefunden haben. Mit ist durchaus bewusst, dass dadurch andere wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. Wenn sich Menschen angeregt fühlten, dann selbst den erwähnten Vortrag zu lesen, wäre es mir eine große Freude! Den Vortrag findet man hier
Anthroposophie wissenschaftsfeindlich?
Ein Teil des Titels des letzten Beitrages „Die Unmenschlichkeit objektiver Wissenschaft…“ mag bei dem ein oder anderen den Eindruck erweckt haben, als sei Anthroposophie oder Rudolf Steiner ein „Wissenschaftsfeind“, was auch als ein Kritikpunkt genannt wird. Im seinem dritten Vortrag für die jungen Menschen von 1922 geht Rudolf Steiner genau auf diese Frage ausführlicher ein. Er macht deutlich, dass es an der „materialistische Wissenschaft“ gar nichts zu kritisieren gibt. Sie hat Recht mit dem, was sie durch Beobachtung und Experiment hervorbringt, dies sind Tatsachen. Als Beispiel dafür nennt er folgendes Forschungsergebnis: Das Denken ist ein Produkt des Gehirns. Damit habe die Wissenschaft völlig recht, so ist es heute! Nun bezeichnet Rudolf Steiner diese Tatsache jedoch als das eigentliche Problem. Wie können wir das verstehen?
Tag- und Nachtmensch
Der Mensch lebt bekanntermaßen nicht nur am Tage, sondern auch in der Nacht, im Schlafe. Im Schlaf befinden wir uns mit unserem Bewusstsein nicht in der irdischen Welt, sondern - allerdings mit einem schlafenden Bewusstsein - in der geistigen Welt. Der Aufenthalt in dieser Welt zeigt sich an den Wirkungen, die er hat. Die am Tag zuvor verbrauchten Kräfte stehen uns erneut zur Verfügung, sodass wir uns wieder erfrischt fühlen. Das kommt uns vor allem dann deutlich zu Bewusstsein, wenn wir einmal nicht schlafen konnten. Was uns im Allgemeinen jedoch nicht bewusst ist, ist die Tatsache, dass wir aus unserem Tagbewusstsein auch etwas in die Welt, in der wir uns nachts aufhalten, hineintragen – uns selbst nämlich. Inwiefern wir heute etwas anderes in die geistige Welt tragen als in früheren Zeiten verdeutlicht Rudolf Steiner anhand einer Persönlichkeit, die in der römischen Epoche gelebt hat, anhand von Cäsar. Dieser hätte nachts in der geistigen Welt – trotz seiner irdisch kleinen Statur - eine empfindungsmäßig stattliche Größe gehabt, denn er konnte noch etwas ganz anderes aus seinem Wachleben in die Nacht tragen als der jetzige Mensch. So könnte es heute sein, dass ein wohlbeleibter, wohlhabender und gesellschaftlich durchaus bedeutender Mensch des nachts ein ganz dürres Seelengerippe ist.
Ameisen und Mühlräder im Kopf
Diese Unterschiede zwischen irdischer und geistiger Realität eines Menschen bringt Rudolf Steiner nun mit der Art und Weise in Zusammenhang, mit der wir unsere Gedanken denken. Wohl gemerkt, es geht dabei nicht um den Inhalt der Gedanken, sondern das WIE unseres Denkens. Wir können auch über spirituelle und anthroposophische Inhalte – indem wir etwa ganz schematisch „physischer Leib, Ätherleib, Astralleib“ erklären – so denken, dass wir des nachts Gerippen gleichen. Das heute verbreitete materialistische Denken, das tatsächlich das Gehirn hervorbringt, bemerken wir nicht, es läuft wie von selbst, wir müssen uns nicht sonderlich anstrengen. Früher war das Denken ein anderes, man hat sich angestrengt, wenn auch unbewusst, und dies hatte Folgen für die Nacht. Rudolf Steiner verwendet zwei Bilder, um das von ihm hiermit gemeinte lebendiges Denken – in Unterscheidung zum „Gehirndenken“ - zu beschreiben: Früher hätte man ein Kribbeln beim Denken erlebt, wie wenn man einen umtriebigen Ameisenhaufen anschauen und das Krabbeln im ganzen Leib spüren würde. Das Denken war eine Realität der ganzen Seele, nicht nur des Gehirns. Diese andere Art des Denkens könnte man heute noch an alten Texten, u.a. den „Veden“, erleben. Wenn man sich derartigen alten Texten, aber auch anthroposophische Texten zuwenden würde, dann hätten die Menschen heute den Eindruck, es ginge ihnen ein Mühlrad im Kopfe herum, was ihnen so unangenehm ist, dass sie es rasch wegschieben wollen.[s. Anmerkung 3]
Totes und lebendiges Denken
Das Denken selbst ist abgestorben, dieses tote Denken ist nur noch ein Leichnam dessen, was es ursprünglich einmal war. Dazu ein Beispiel, das von Steiner verwendet wird: Die Wissenschaft hat Stoffe wie Phosphor, Quecksilber, Schwefel, Kalium etc. erforscht. Bei so manchem Leser werden vielleicht unangenehme Erinnerungen an den Chemieunterricht wach. Wir verbinden mit diesen Stoffen bestimmte Begriffe, etwa das Aussehen derselben, die entsprechenden Elementezeichen, Reaktionsbereitschaft, vielleicht auch noch deren Verwendung etc. Unser Wissen darüber ist ein Produkt der objektiven Naturwissenschaft. Es ist ganz richtig. Insgesamt bleiben uns die genannten Stoffe aber doch fremd und unlebendig. Das war früher – also vor dem 15. Jahrhundert - anders, da haben die Menschen im Wahrnehmen dieser Stoffe noch etwas gesehen, das so real war wie uns heutigen Menschen die Farben real sind. Sie haben etwas Geistig-Ätherisches gesehen, was man die Aura der Stoffe nennen kann. Sie haben in dem vermeintlich „Toten“ noch etwas Lebendiges wahrnehmen können. Es gehört zur Entwicklung der Menschheit dazu, dass uns das verlorengehen musste und wir es uns nun bewusst wieder erringen können.[4]
Transformation geschieht in der Nacht
Es ist also nicht gleichgültig, was wir abends in die geistige Welt, in den Schlaf hineintragen, denn davon hängt ab, was nachts mit uns geschieht und morgens aus ihr in uns hineinstrahlen kann. Nur in der Nacht findet individuelle Verwandlung statt, nur in der Nacht können wir - in Gemeinschaft mit den Wesen der geistigen Welt - wirklich transformierend an uns arbeiten. Ob und welche Transformation stattfindet, hängt von unserem Tagesbewusstsein ab. Dabei macht es bereits einen Unterschied, wie wir uns abends auf die Nacht vorbereiten. Es ist etwas anderes, wenn wir uns mit einer Meditation, einem Gebet, einem religiösen/spirituellen Text beschäftigen oder uns mit einem Glas Wein die nötige Bettschwere verschaffen.
Wenn sich in unserem Tagesbewusstsein nur Intellektuelles, das durch totes Denken hervorgebracht wird, befindet, dann kann die geistige Welt damit nichts anfangen. Intellektuelles und Geistiges vertragen sich nicht mit einander. Wenn diese Tatsache ins Bewusstsein tritt, kann daraus eine Abneigung gegen das Denken - "der Verstand" - überhaupt entstehen, weil man zum wirklich lebendigen Denken bisher keinen Zugang finden konnte. Von großer Bedeutung ist es für die Entwicklung der Kinder, womit sie sich tagsüber beschäftigen, welche – im seelisch-geistigen Sinne gemeint – Nahrung sie für die Nacht erhalten. Haben sie Menschen um sich, die ihr eigenes Denken verlebendigt haben, die ihnen Märchen bildhaft erzählen oder anschaulich über das Wesen der Stoffe zu sprechen vermögen? Oder sollen bzw. können sie Medien wie Büchern, Internet oder auch vorbereiteten Lernmaterialen lediglich intellektuelle Gedanken und fertige Bilder entnehmen?
"Ehe" zwischen Himmel und Erde
Wir leben gerade deshalb als geistige Wesen in der irdischen Welt, weil nur hier die Brücke gebaut werden kann zwischen dem Stofflichen, wie z.B. der Chemie, und dem Geistigen. Wir Menschen auf der Erde können die „Ehe“ zwischen Himmel und Erde schließen, indem wir lernen im Stoff den Geist zu erkennen. Die Welt war zunächst spirituell und wurde dann immer materialistischer. Den Geist, der in unserem Denken erstorben ist, wieder zu beleben, ist ein Anliegen der Anthroposophie. Den Geist, der in der Materie wie erstorben erscheint, wieder zu erleben, ist Anliegen des Goetheanismus. (Dass Goethe vor allem auch ein Naturwissenschaftler war, ist heute vielen Menschen leider nicht so bekannt.) Einer, der gerade in diesem Sinne sehr viel geforscht hat, sei hier genannt. Es ist Ernst-Michael Kranich, den ich selbst noch als Dozenten am Stuttgarter Waldorflehrerseminar erleben durfte. „Chemie verstehen“[5] – so der Titel eines Buches, das er herausgegeben hat und wodurch mir Begriffe, die seit meiner Ausbildung als Chemisch-technische Assistentin wie tote Fremdkörper in meiner Seele lagerten, wieder lebendig wurden und damit integriert werden konnten. Früher wurde den Menschen das noch wie geschenkt, die Verbindung zur geistigen Welt war noch ganz real, heute müssen und können wir uns das wieder erarbeiten, wenn wir uns als Menschheit weiter entwickeln wollen. Hier beginnt unsere Freiheit. „Als trocken und eisig empfindet der vollfühlende Mensch die Gegenwartskultur. Sie muss wieder Leben, innere Regsamkeit bekommen. Sie muss so werden, dass sie den Menschen erfüllt mit Leben.“[6] Dazu dürfen wir lernen, nicht nur über den Geist zu sprechen, sondern aus dem Geiste heraus, dies will Rudolf Steiner in den nächsten Vorträgen weiter verfolgen.
[1] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation Pädagogischer Jugendkurs Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 27 – 42 [2] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217 [3] Anmerkung: Daher ist auch die Beschäftigung mit anthroposophischen Texten ein wunderbares Mittel, um sein eigenes Denken wieder zu verlebendigen. Man wird folgende Erfahrung machen: Hat man zunächst den Eindruck, dass man „nichts“ versteht, so wird man erleben können, dass sich der Radius dessen, was man versteht, immer weiter ausdehnt, weil sich das eigene Denken verwandelt hat. [4] Anregungen und Übungen dazu hat Rudolf Steiner in seinem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?“ gegeben. [5] Ernst-Michael Kranich, Chemie verstehen, Stuttgart 2005 [6] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation Pädagogischer Jugendkurs Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 56 Foto: 30daysreplay Social Media Marketing / Unsplash
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