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AutorenbildAntje Bek

Waldorfschule in China - Die etwas andere „Monatsfeier"


Foto: Fahnenappell an der Waldorfschule in Peking


Im April 2023 war ich nach China eingeladen, um in Peking mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines einjährigen Ausbildungskurses drei Wochen zum Thema „Waldorfpädagogik“ zu arbeiten. Von meinen Erfahrungen und Erlebnissen im fernen Osten berichte ich mit einer kleine Reihe von Beiträgen.


Waldorfschulen in China? Diese erstaunte Frage bekam ich immer wieder gestellt. Ja, es gibt sie, Waldorfschulen in China. Es gibt sogar staatlich zertifizierte Waldorfschulen, wie die große Waldorfschule in Chengdu, die als erste Waldorfschule in China 2010 gegründet wurde.


Waldorfboom in Asien

In den 2010er-Jahren gab es in China – wie auch in anderen asiatischen Staaten (Südkorea, Taiwan) – einen regelrechten Waldorf-Boom. Vor Corona soll es ca. 85 Waldorfschulen in China gegeben haben, auf einer Fläche, die so groß ist wie Europa. Hinzu kamen 5 Lehrerseminare. Durch Corona gab es große Einbrüche, sodass jetzt schätzungsweise noch 25 Waldorfschulen existieren und nur zwei Lehrerseminare übriggeblieben sind, das eine in Peking, in dem ich tätig werden durfte, das andere im Süden von China. Dabei darf man sich vorstellen, dass Waldorfschulen von Eltern häufig einfach recht spontan gegründet wurden. Man suchte ein Gebäude und fing einfach an. Wenn dann das Gebäude abgerissen wurde (was in China recht häufig geschieht, weil oft ohne Baugenehmigung gebaut wird) oder die Kraft der Initiative nachließ, dann wurde die Schule genauso schnell wieder geschlossen wie sie eröffnet worden war.


Unterrichtsbesuche

Ich durfte den Unterricht an den zwei Schulen in Peking wahrnehmen, das eine die Schule GuSheng, auf deren Gelände ich auch wohnte, das andere die Schule in Nan Shan.


Die Waldorfschule, auf deren Gelände ich wohnte, hat die Klassen eins bis acht, danach müssen die Eltern eine andere, weiterführende Schule für ihre Kinder suchen. Viele Eltern machen sich aber schon vor der achten Klasse auf den Weg, denn nach der sechsten Klasse ist die Grundschulzeit beendet und für Kinder im öffentlichen Bildungssystem steht der Wechsel auf eine „Juniorschool“ an, sodass die Klassen 7 und 8 mit nur wenigen Jugendlichen arbeiten. Am Ende der 10. Klasse müssen alle Schüler einen standardisierten Test machen, der darüber entscheidet, ob sie auf eine höhere Schule (Senior High School) gehen dürfen, wo man dann einen Abschluss machen kann, der zum Hochschulstudium berechtigt. Der Besuch der Klassen 1-10 ist für alle Kinder in China verpflichtend.


Die Waldorfschule befindet sich auf dem Gelände und in den Gebäuden eines ehemaligen Hotels. Das Hotel war so ausgestattet, dass es viele kleine Häuschen für die Gäste gab, in denen nun die einzelnen Klassen untergebracht sind. In ein paar Häuschen leben Mitarbeiter und Gastdozenten. Das Seminar für die Studenten befindet sich ebenfalls in einem separaten Gebäude auf diesem Gelände. Die Kinder der Studentinnen des Seminars besuchen überwiegend die Waldorfschule GuSheng, einige Mütter sind mit ihren Kindern extra in die Nähe gezogen, damit sie das Seminar besuchen und ihre Kinder dort zur Schule gehen können. Insgesamt hat die Schule ca. 135 Schüler. Die Schule in Nan Shan ist größer, dort gibt es auch eine Waldorf-Oberstufe. Zudem hat man mit einer Klasse eine Zweizügigkeit begonnen, weitere Klassen sind geplant.


Schreiben lernen in China

Die Frage nach der Qualifikation der Waldorflehrer besteht in China genauso wie in Deutschland. Der Gründungslehrer der Waldorfschule, an der ich war, hat in Deutschland Waldorfpädagogik studiert und wohl auch eine gewisse Zeit hier unterrichtet. So wurde ich, als ich seine 4. Klasse an einem Vormittag besuchen durfte, mit „Roller, Roller rattatat, wenn Robert einen Roller hat, dann rollt er durch die ganze Stadt, Roller, Roller, rattata.“ begrüßt! Das „R“ auszusprechen ist für chinesisch sprechende Menschen nicht einfach, die Kinder haben es aber ganz gut hinbekommen! Und ich habe mich über den Spruch gefreut, weil ich ihn gerne zum Einführen des Buchstaben „R“ in meinen Klassen verwendet habe. Eine besondere Herausforderung ist natürlich das Erlernen der chinesischen Schrift. Ihr Vorteil ist, dass sie in sich schon sehr bildhaft ist und man keine einzelnen Laute schreibt, sondern für jedes Wort ein Zeichen kennen muss. Aufgrund der Fülle der zu lernenden Zeichen nimmt das Schreiben Lernen einen wichtigen Teil innerhalb des Unterrichtes ein; so schrieben die Viertklässler während meines Besuches ein Diktat, bei dem einzelne Wörter diktiert und mit dem entsprechenden Zeichen notiert werden mussten. Es gibt in China nicht das, was bei uns „Legasthenie“ genannt wird, denn die Schwierigkeit einen einzelnen Laut mit einem bestimmten Zeichen zu verbinden und daraus dann Wörter zusammenzusetzen fällt weg.


Schüsse, Flötenspiel und Kindergesang

Mit dieser 4. Klasse verbanden mich noch andere Erlebnisse. In der Nähe der Schule befindet sich ein Militärgelände mit Schieß- und Exizierplatz. Während meiner Zeit fanden dort fast täglich Schießübungen - laute Knallerei, wie bei uns an Silvester, nur noch lauter - und lautstarke Exerzierübungen statt. Ich wohnte direkt angrenzend an das Gebäude der vierten Klasse. So hörte ich morgens in der militärischen Geräuschkulisse zartes Flötenspiel und wunderschönen Gesang heller Kinderstimmen. Mir schien das ein sehr ausdrucksstarkes Bild für unsere Zeit zu sein.


„Bewegtes Klassenzimmer“ in China

In der ersten Klasse erlebte ich die Spuren, die Dozenten aus Deutschland in China hinterlassen haben. An deutschen Waldorfschulen hat sich in vielen Klassen inzwischen ein Mobiliar durchgesetzt, das auf Tische und Stühle verzichtet und mit Bänkchen und Kissen arbeitet, u.a. um dem Bewegungsdrang der jungen Kinder besser gerecht werden zu können. Dieses Mobiliar ist ein Teil des so genannten „Bochumer Modells“, das an der Waldorfschule in Bochum-Langendreer, ganz in meiner Nähe, entwickelt wurde und auch unter dem Namen „bewegtes Klassenzimmer“ bekannt wurde. Ein ehemaliger Lehrer dieser Schule und einer der Mitbegründer des Modells, war vor einiger Zeit ebenfalls in China und hat diese Idee dort hingebracht. So war bei meinem Besuch der 1. Klasse ein Bewegungsparcour mit den Bänkchen, einem riesigen Würfel, Reifen usw. aufgebaut. Die Kinder bekamen Reis-Säckchen auf den Kopf gelegt (ein Junge beförderte einen ganzen Stapel!) und sie balancierten über die umgedrehten, teilweise schräg gestellten schmalen Bänkchen, um ihren Gleichgewichts- und Bewegungsssinn zu üben. Ich bewunderte die Ausdauer, mit der sich die 1. Klasse in Ruhe für etwa 15 Minuten in diesem kleinen Rund-Parcour bewegte. Es entstand eine fast meditative Stimmung. Wem sein Säckchen herunter fiel, der bewegte sich in die Mitte des Kreises und durfte nach einiger Zeit wieder mit den anderen gehen. Geschwind wurde der Parcour schließlich abgebaut und die Bänke frontal zur Tafel hingestellt, wo es mit einem schönen Rechenspiel weiterging.


Fast jeden Tag 10 Stunden Unterricht

Bei meinem Besuch an der größeren Waldorfschule in Nan Shan bekam ich mit, dass die Schüler dort fast täglich bis kurz vor 17 Uhr Unterricht haben, auch die jüngeren Schüler. Die Lehrer sind ebenfalls den ganzen Tag, oft noch länger als die Schüler, an der Schule. Ich frage eine Lehrerin, ob sie sich dann in der Schule auf den nächsten Tag vorbereite? Nein, das würde sie am Abend machen. Als ich sagte, dass das aber doch ganz schön viel sei, meinte sie zu mir, dass die Waldorflehrer eben aus einem ganz speziellen Holz geschnitzt seien… Man bemüht sich, in die Nachmittagsstunden den künstlerischen und den Sportunterricht zu legen, was natürlich nicht immer gelingt. Ich konnte draußen die letzte Schulstunde des Tages, den Sport-Unterricht einer 10. Klasse wahrnehmen. Anschließend unterhielt ich mich noch mit ein paar interessierten Jugendlichen. Ein Mädchen sagte mir, dass sie, wenn sie dann zuhause ist, noch zwei oder zweieinhalb Stunden Hausaufgaben machen muss.


Kein Programm = Stress?

Ich verstand nun besser, was bei mir – und den Lehrern – zunächst Unverständnis ausgelöst hatte. Es war mir nämlich die Frage gestellt worden, wie ich denn das Nachmittagsprogramm für die jüngeren Schüler sehen würde. Ich plädierte dafür, dass sie möglichst wenig Programm hätten, eher Angebote und viel freies Spiel. Das stieß auf ziemliches Unverständnis und ich wurde gefragt, ob das denn für die Kinder nicht viel zu stressig sei. Das konnte ich wiederum nicht verstehen, warum sollte Freiraum zum Spielen für die Kinder Stress sein? Im Laufe der Zeit wurde mir das aber verständlicher. Schon die Lehrer werden in einem System aufgewachsen sein, in dem von morgens bis abends ein (Lern-)Programm vorgegeben ist, sie haben selbst gar nicht diesen Freiraum erlebt, von dem ich sprach. Und es ist nur zu verständlich, dass der „Leerraum“, der zunächst einmal entstehen würde, als Stress empfunden wird, denn er verunsichert, man weiß gar nicht, was man machen soll. Deshalb sehen es die Lehrer so, dass es gut für die Kinder ist, wenn man ein Unterrichtsprogramm auch am Nachmittag hat.


Es wurde mir wieder so deutlich, wie Waldorfpädagogik immer auch von der jeweiligen Kultur und dem Schulsystem geprägt ist, in dem sie umgesetzt wird. So ist es ja auch bei uns. Schon die erste Waldorfschule war – bei allen tiefgreifenden Erneuerungen wie Koedukation, keine Noten, kein Sitzenbleiben, keine Zeugnisse – doch auch ein „Kind“ des damaligen Schulsystems. Es zeigt aber auch, dass Waldorfpädagogik kein festes Konzept, kein Dogma ist, sondern dass aus der Erkenntnis des sich entwickelnden Menschen Formen gefunden werden können, die dem Kind so gut es geht gerecht werden. Gleichzeitig spielen die Prägungen, Hintergründe, Erfahrungen, sozialen und kulturellen Einbindungen der Erwachsenen, insbesondere der Lehrer ebenfalls eine große Rolle.


Fahnenappell und Eurythmie

Ein besonderes Erlebnis war der Fahnenappell zu Beginn der Woche. An meinem ersten Montag an der Schule musste er leider ausfallen, weil die Fahne schmutzig war und es hätte falsch verstanden werden könnte, wenn eine schmutzige Fahne gehisst wird. Am darauffolgenden Montag stellten sich dann die anwesenden Schülerinnen und Schüler ordentlich in Reihen vor den Fahnengestängen auf (s. Foto). Die Achtklässler hatten die Aufgabe die nun gereinigte Fahne aus dem Seminargebäude zu den Fahnenstangen zu tragen. In militärischem Ton gab der Sportlehrer seine Befehle und schließlich wurde die Fahne zur Musik gehisst. Die Kinder sangen Lieder, es soll auch ein „Waldorflied“ dabei gewesen sein, was ich aber nicht kannte. Die für mich etwas befremdliche Situation bekam an diesem Tag noch ein anderes Gesicht, da nämlich die Studenten des Colleges eine kleine Eurythmie-Aufführung (eine Bewegungskunst) machten und den Kindern zeigten, was sie gelernt hatten. Kindergesang, Akkordeonmusik, Fahnenappell und Eurythmie – eine etwas andere „Monatsfeier“…




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