DAS ERWACHEN DER RECHENFÄHIGKEITEN IM SCHULALTER
- Antje Bek

- vor 13 Minuten
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ZUR BEDEUTUNG VON LEBENS-, BEWEGUNGS- UND GLEICHGEWICHTSSINN

Der Frage, welche menschenkundlichen Phänomene unseren allgemeinmenschlichen mathematischen Fähigkeiten zugrunde liegen, wurde im vorangegangenen Beitrag behandelt. In diesem Beitrag geht es um den Zusammenhang der so genannten „unteren Sinne“1 mit dem Auftreten der eigentlichen Rechenfähigkeit um das 7. Lebensjahr herum.
Mathematik und die Sinne
Rudolf Steiner beschreibt nun, wie das Auftreten der Rechenfähigkeiten im Schulalter mit der Tätigkeit dreier Sinne zusammenhängt, die im ersten Jahrsiebt noch eine ganz spezielle Aufgabe haben. Es handelt sich um den Lebens-, den Bewegungs- und den Gleichgewichtssinn. Alle drei Sinne gehören zu den körperbezogenen Sinnen und die daraus erwachsenden Wahrnehmungen bleiben uns zumeist unbewusst. Für die weiteren Ausführungen ist es wichtig sich klar zu machen, dass wir nie einen unserer Sinne isoliert von den anderen Sinnen betätigen. Alle unsere Sinneswahrnehmungen sind immer ein Zusammenspiel mehrerer Sinne, auch wenn wir sie im Folgenden zunächst getrennt betrachten werden.
Der Gleichgewichtssinn
Heute weiß man, dass sich das Gleichgewichtsorgan, das sich im Innenohr befindet, bereits ab dem 2. Monat im Mutterleib zu bilden beginnt und dann seine Tätigkeit aufnimmt. Der Gleichgewichtssinn vermittelt uns u.a., wie wir im Raum stehen und seinem „Funktionieren“ verdanken wir es, dass wir uns aufrecht halten können. Er vermittelt uns das Empfinden in Harmonie mit den im Raume wirkenden Kräften zu sein.

Der Bewegungssinn
Der Bewegungssinn wird auch Eigenbewegungssinn oder kinästhetischer Sinn genannt. Er vermittelt uns über Rezeptoren in den Muskelspindeln in welcher Stellung sich unsere Gliedmaßen befinden. Auch in einem dunklen Raum können wir wissen, ob unser Arm gestreckt oder gebeugt ist und in welcher Stellung er sich befindet.
Der Lebenssinn
Das Organ des Lebenssinns ist unser vegetatives Nervensystem. Er vermittelt uns den Zustand unseres Leibes. Wir nehmen die Eindrücke, die er uns vermittelt, allerdings nur dann bewusst wahr, wenn etwas nicht ganz stimmig ist, etwa wenn wir hungrig, müde oder krank sind. Im normalen Zustand erleben wir durch ihn das Gefühl des Wohlbefindens.
Rudolf Steiner beschreibt nun, dass diese Sinne zu Beginn unseres Lebens noch nicht die oben beschriebenen Wahrnehmungen vermitteln können. Er schildert dies am Beispiel des Gleichgewichtssinns: Beim Neugeborenen und auch noch beim Säugling ist der Gleichgewichtssinn nicht in der Lage eine Harmonie mit den Kräften des Raumes zu vermitteln, wie das im späteren Leben der Fall ist. Das Kind ist diesen Kräften zunächst hilflos ausgeliefert, es muss sich erst mühsam über das Robben, Krabbeln und Aufrichten diese Möglichkeit erarbeiten, um sich schließlich aufrecht im Raum bewegen zu können.
Das trifft entsprechend auch auf den Bewegungssinn zu. Die Bewegungen des Neugeborenen sind noch unkontrolliert und vielfach von Reflexen bestimmt. Der Bewegungssinn vermittelt dem Kind noch nicht, wo sich seine eigenen Gliedmaßen im Raum befinden und welche Stellung sie zueinander haben. Die damit zusammenhängende Koordinationsfähigkeit entwickelt sich erst im Laufe der Zeit.
Auch der Lebenssinn ist zu Beginn des Lebens noch weit davon entfernt in erster Linie Wohlgefühl zu vermitteln. Hunger, Müdigkeit, aber auch andere Störungen der Befindlichkeit, bestimmen das Leben des Neugeborenen bzw. sein Lebensgefühl noch so sehr, dass es die ständige Aufmerksamkeit und Pflege seiner Umgebung benötigt und die phasenweise Wiederherstellung des Wohlbefindens durch diese geleistet werden muss.
Die Tätigkeiten der inneren Sinne im ersten Jahrsiebt
Rudolf Steiner führt weiter aus, dass der Lebenssinn, der Bewegungssinn und der Gleichgewichtssinn im 1. Jahrsiebt eineTätigkeitim Leibdes Kindes ausführen. Mit dieser Tätigkeit ist nicht die übliche Sinnestätigkeit gemeint. Damit ist eine Tätigkeit gemeint, die diese leibgebundenen Sinne ausführen, damit sie überhaupt in die Lage kommen, die Sinneswahrnehmungen zu vermitteln, für die sie geschaffen sind.
Der Lebenssinn – so Steiner – betätigt sich in der Vitalität des Kindes. Die Vitalität von Kindern ist geradezu beeindruckend! Wie oft fällt ein Kind hin und steht wieder auf, bis es dann endlich laufen kann! In seinen Bemühungen ermüdet es nicht. Darin erleben wir ganz direkt eine Tätigkeit des Lebenssinnes im Sinne der Vitalität beim kleinen Kind.

Beim Gleichgewichtssinn ist es so, dass er mit dem gesamten Aufrichtungsprozess zusammenhängt und dadurch wiederum – wie oben beschrieben - mit der Ausbildung der dafür notwendigen Statik des gesamten Skeletts. Denkbar ist dieser Prozess nur in Verbindung mit dem Bewegungssinn, denn das Kind wird sich ohne permanente Bewegungsübungen nicht aufrichten können.
Gleichgewichtssinn und Bewegungssinn mathematisieren uns also im beschriebenen Sinne im 1. Jahrsiebt durch und der sich in der Vitalität äußernde Lebenssinn sorgt dafür, dass das ein lebendiger, künstlerischer Prozess ist, wie wir ihn uns insbesondere an der Entwicklung der Statik im Oberschenkelknochen veranschaulicht haben2.
Von der konkreten zur abstrakten Mathematik?
Im Vorangegangenen wurde versucht darzustellen, wie die mathematisierenden Kräfte bis zum Zahnwechsel in unserem Leibtätig sind. Wir können also sagen, wir, d.h. die Gestalt und Statik unseres Leibes ist aus diesen Kräften heraus gebildet. Wir haben die Wirksamkeit dieser Kräfte – völlig unbewusst – in uns erfahren, wir haben in gewissem Sinne sogar mit ihnen gemeinsam „gearbeitet“, wir haben mit und in ihrer Tätigkeit gelebt.
Es scheint jetzt vielleicht gar nicht mehr so verwunderlich, dass man heute bereits bei Säuglingen anfängliche mathematische Kompetenzen feststellen kann. Wenn auch noch tief unbewusst, erleben sie in ihrem eigenen Leib etwas, das mit diesen Kräften und Erfahrungen zu tun hat. Sie reagieren erkennbar, wenn ihnen aus der Umgebung (im Experiment) etwas entgegenkommt, das genau diese Erfahrungen anspricht. Das lässt sich nicht nur an äußerlichen Reaktionen, sondern auch an der Aktivierung bestimmter Hirnareale erkennen.
Rudolf Steiner beschreibt nun sehr genau, wie sich die ganz konkret im Leib betätigenden mathematischen Kräfte mit dem Zahnwechsel von dieser Tätigkeit emanzipieren, d.h. dass sich die oben beschriebenen Sinne von dieser Art leibgebundener Tätigkeit befreien und dann für die Mathematik, wie wir sie üblicherweise kennen, zur Verfügung stehen.
Die mathematisierende Aufgabe, die sie im Leib noch hatten, ist etwa mit dem 7. Lebensjahr weitgehend abgeschlossen. Die aufrechte Haltung, das Fußgewölbe, die Verknöcherung, alles das hat sich jetzt ausgebildet. Und so, wie aus dem Wasser Wärme aufsteigt, wenn es durch Abkühlung fest wird, so steigen jetzt die vorher im Leib tätigen Kräfte im Kind als neue Seelenkraft, als eine Tätigkeit der Seele auf. Daher kann ab diesem Zeit punkt die Rechenfähigkeit „bewusst“ vom Kind ergriffen und durch Anregungen der Außenwelt, also durch Erziehung und Unterricht weiterentwickelt werden. Hat vorher eine ganz konkrete lebendige Mathematik in uns gewirkt, bezeichnet Rudolf Steiner das, was dann mit dem Zahnwechsel als Seelentätigkeit auftritt, im Vergleich zu der zuvor ausgeübten Tätigkeit allerdings als eine „Abstraktion“3.
Mathematik als innere Erfahrung
Unsere ersten Erfahrungen mit der Mathematik machen wir also zunächst einmal nicht durch Sinneswahrnehmungen an der Außenwelt, sondern indem Mathematik während unserer Leibbildung bereits mit dem Zeitpunkt der Empfängnis zu einer inneren Erfahrung wird:
„Lernt man aber innerlich schauen, dann weiß man, woher man dieses merkwürdige Mathematische hat: es ist der astralische Leib durchgegangen durch die Mathematik des ganzen Weltalls, es hat sich das wieder zusammengezogen. Wir lassen einfach auftauchen aus unserer Seele dasjenige, was wir in einer früheren Inkarnation erlebt haben, was dann durchgegangen ist durch den ganzen Kosmos und was dann in der Feinheit der mathematisch-geometrischen Linien wiederum auftaucht.“4
Gesetzmäßigkeiten der Mathematik können im Laufe der Entwicklung aus diesem Grunde rein innerlich erkannt werden, was uns dann besonders deutlich wird, wenn wir einen mathematischen Beweis durchführen.

Nach dem Zahnwechsel können wir sie schließlich nutzen, um sie auf die Außenwelt anzuwenden und deren Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben. Dadurch gewinnt die Mathematik ihre Bedeutung innerhalb der Naturwissenschaften, sie unterscheidet sich aber dennoch deutlich von ihnen – und damit von jedem anderen Fach...
Das wollen wir uns am Beispiel der Pflanzenkunde noch etwas konkretisieren: Die Pflanzen erscheinen uns als etwas im Äußeren Vorhandenes, wir sind nicht Pflanze. Deshalb müssen wir uns über entsprechende Sinneseindrücke, durch Empirie Kenntnisse über dieselben und ihre Gesetzmäßigkeiten aneignen. Die Biologie ist daher eine Naturwissenschaft.
Wir rekapitulieren: Nach der Geburt sind unsere Körpersinne, insbesondere der Lebenssinn, der Bewegungssinn und der Gleichgewichtssinn an der weiteren Leibgestaltung beteiligt. Damit diese Sinne künstlerisch mathematisierend tätig werden können, muss sich das Kind im Vorschulalter in der Außenwelt bewegen und betätigen.
Erst mit dem Beginn der Schulzeit stehen die mathematisierenden Kräfte dem Kind als Rechenfähigkeit zur Verfügung, weil sie frei von ihrer Bindung an das Leibliche werden. Jetzt kann das Kind im eigentlichen Sinne „Rechnen lernen“, womit gemeint ist, dass das Kind die bereits beschriebenen Vorläuferfähigkeiten5, die sich auf Mengen beziehen, mit einem Zahlbegriff verbinden kann.
Die Fähigkeit zu zählen und die mathematischen Vorläuferfähigkeiten entwickeln sich zunächst parallel. Das macht die Vorläuferfähigkeiten gerade aus, dass es sich bei ihnen um Erkenntnisse von Beziehungen zwischen Mengen und nicht zwischen Zahlen handelt. Lauren Resnick sieht daher in der Koppelung der mathematischen Vorläuferfähigkeiten mit dem sich entwickelnden Zahlbegriff die Grundlage für die weitere Entwicklung mathematischer Kompetenzen überhaupt.6
Es stellt sich daher die Frage, wie die Verbindung zwischen Mengen- und Zahlbegriff im Anfangsunterricht angeregt und gefördert werden kann. Um diese zentrale Frage soll es in weiteren Beiträgen gehen.
Literatur
1 Dazu auch der Beitrag von Martin Cuno, Die zwölf Sinne (1-4): Toben, klettern, sich spüren, In: Zeitschrift erWACHSEN&WERDEN 06/25, S. 44, https://www.erwachsen-und-werden.de/_files/ugd/a8c38c_abba5a8b9342457d9f51f7cece780c87.pdf
2 Antje Bek, Mathematik und der Oberschenkelknochen – Warum können wir alle Mathematik?, In: Zeitschrift erWACHSEN&WERDEN 08/25, S. 48, https://www.antje-bek.de/post/mathematik-und-der-oberschenkelknochen
3 Rudolf Steiner, Grenzen der Naturerkenntnis. GA 322, Dornach 1981, S.41
4 Rudolf Steiner, Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem physischen des Menschen, GA 202, Dornach 1970, S. 145
5 Antje Bek, Wie entwickelt sich der Zahlbegriff? - Teil 2, In: Zeitschrift erWACHSEN&WERDEN 06/25, S. 51, https://www.antje-bek.de/post/wie-entwickelt-sich-der-zahl-begriff-teil-ii,
6 Krajewski, Kristin, Petra Krüspert and Wolfgang Schneider. Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen. Paderborn, 2016, S. 22 f.
Fotos
Balancierendes Kind: Annie Spratt / Unsplash
Geometrische Form: Privat
Dieser Beitrag erschien ebenfalls in der Oktober-Ausgabe 2025 von erWACHSEN&WERDEN



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