WIRKT SICH DAS EIGENE VERHÄLTNIS ZUR MATHEMATIK AUF DIE FÄHIGKEIT ZUM UNTERRICHTEN DERSELBEN AUS?

Mathematik ist für den einen ein großes Problem, für den anderen die reinste Freude. Sie zu unterrichten kann für Klassenlehrerinnen und -lehrer, Lernbegleiter und Eltern sowohl in dem einen wie in dem anderen Falle eine Herausforderung sein. Welche Rolle spielt das eigene Verhältnis zur Mathematik, wenn man die Aufgabe übernommen hat, Rechnen an Kinder heranzutragen?
Für alle, die Mathematik unterrichten, scheint es mir wesentlich zu sein, sich des eigenen Verhältnisses zu diesem Fach bewusst zu werden. Bei Menschen, die Mathematik studiert haben, um es dann später zu unterrichten, wird das Verhältnis in erster Linie ein solches sein, dass ihnen Mathematik Freude bereitet und sie Interesse daran haben. Bei Klassenlehrerinnen und -lehrern, Lernbegleiterinnen oder auch Eltern kann dieses Verhältnis allerdings sehr unterschiedlich sein. Während meiner Dozententätigkeit am Waldorfinstitut Witten Annen ließ ich die Studierenden in den Seminaren erzählen, wie sie selbst Mathematik erlebt haben. Um die Frage etwas zu konkretisieren, sollten sie sich an eine Situation im Zusammenhang mit Mathematik erinnern, die für sie bis heute eine Bedeutung hat.
Mathematik polarisiert
Ich habe es dabei sehr selten erlebt, dass jemand ein annähernd „neutrales“ oder gar gleichgültiges Verhältnis zur Mathematik hat. Ich erlebe es auch im Alltag relativ häufig, dass sich Menschen bei dem Wort „Mathematik“ spontan zu ihrem eigenen Verhältnis dazu äußern. Menschen, die kein Interesse daran haben, bzw. bei denen keine – sei es eine positive oder negative – Verbindung dazu besteht, sind mir bisher erstaunlich selten begegnet.
Mathematik polarisiert. Es gibt die Menschen, die darauf mit ausgesprochener Antipathie reagieren und die anderen mit eben solcher Sympathie. Für die Studierenden war es häufig ein überraschendes Erlebnis, dies den Erzählungen der anderen zu entnehmen. Das eigene Verhältnis zur Mathematik wird zunächst gar nicht in Frage gestellt, und dass andere Menschen ein gerade gegenteiliges Verhältnis dazu haben könnten, hatte im eigenen Bewusstsein bisher kaum eine Rolle gespielt. Und dies, obwohl man in der Schule durchaus erlebte, dass es „gute“ und „schlechte“ Schüler in der Mathematik gab.
Begriffe, die häufig im Zusammenhang mit Mathematik genannt werden, sind:
Stress, Angst, Blockade, Druck, „ich kann das nicht“, sich dumm fühlen, sich bloßgestellt fühlen, Versagen, Frustration, unverstandenes und mechanisches Abarbeiten von Aufgaben, kein Bezug zum praktischen Leben, traumatische Erlebnisse, Unwohlsein bis hin zu Befindlichkeitsstörungen.
Oder:
Flow, Freude, Glücksgefühle, wenn die Aufgabe gelöst wurde, alles ist eindeutig und klar, Herausforderungen können bewältigt werden, Befriedigung an der Mathematik „an sich“: der Bezug zum praktischen Leben spielt keine Rolle.
Wir können uns klar machen, dass die Studierenden die Schüler von gestern sind, und dass wir daher heute mit großer Wahrscheinlichkeit in den Klassen Kinder haben, die diese – so unterschiedlichen - Erlebnisse ebenfalls hatten oder haben.
Entscheidend: Die pädagogischen Fähigkeiten der Lehrer
Bei beiden Gruppen von Studierenden gab es aber immer einen Faktor, der das (zeitweise) Verhältnis zur Mathematik entscheidend beeinflusst hat! Das war die Lehrerin oder der Lehrer. So gab es Studierende, die es nicht leicht hatten mit der Mathematik, die jedoch von Erlebnissen mit Lehrerinnen berichteten, die ihnen sehr geholfen haben. Lehrerinnen, die sich um sie bemühten, ihnen Mut machten und denen sie es letztlich verdankten, die abschließenden Prüfungen zu bestehen. Ebenso gab es Studierende, die davon berichteten, dass sie eigentlich Mathematik wirklich gerne haben, dass es jedoch zeitweise Lehrer gab, die ihnen sämtliche Freude nahmen, bei denen sie nichts mehr verstanden, von denen sie sich bloßgestellt fühlten und sich daher ihre Noten rapide verschlechterten. Die Beziehung der Lehrenden zu den Schülern scheint bis in die Abiturklassen hinein ein wesentlicher Faktor dafür zu sein, wie das Fach „Mathematik“ erlebt wird und wie bzw. ob seine Anforderungen bewältigt werden können.
Welche Schüler spreche ich an?
Welches Verhältnis man persönlich zur Mathematik auch hat, es wird Auswirkungen darauf haben, wie man unterrichtet und welche Schüler man mit seinem Unterricht vorwiegend anspricht. Menschen, denen die Mathematik keine großen Schwierigkeiten bereitet, werden zunächst am ehesten diejenigen Schüler ansprechen, denen es ebenso geht. Es ist für jemanden, dem alles sehr schnell klar ist, oft nicht nachvollziehbar, warum jemand anderes einen bestimmten Sachverhalt nicht verstehen kann. Daher kann es leicht geschehen, dass man Schüler, die einen anderen, eventuell konkreteren Zugang zur Mathematik bräuchten, zu wenig berücksichtigt.
Menschen, die selbst mit dem Verständnis der Mathematik zu kämpfen haben, können sich gut in Schüler hineinversetzen, denen es ebenso geht. Lehrerinnen, die an sich selbst entsprechende Hürden erlebten und erleben, können dieselben zudem im Unterricht leichter erkennen und berücksichtigen.
Allerdings kann es ihnen eher passieren, dass sie die Kinder, die schneller oder anders „kapieren“, zu sehr außer Acht lassen, sodass sich diese Schüler langweilen.
Ich stelle die kühne These auf, dass Menschen, die selbst mit Mathematik zu kämpfen haben oder hatten, zunächst die besseren Voraussetzungen für das Unterrichten von Mathematik mitbringen. Bedingung dafür ist natürlich, dass man selbst an den eigenen „Grauzonen“ gearbeitet hat oder arbeitet.
Das kindliche Denken verstehen und seine Entwicklung kennen
Für alle, die Mathematik insbesondere in den unteren Klassen unterrichten, scheint es mir jedoch eine große Hilfe zu sein, sich mehr und mehr in die Entwicklung und die Grundlagen des (mathematischen) Denkens von Kindern hineinzuleben, um seinen Unterricht aus diesem grundlegenden Verständnis heraus gestalten zu können. Denn unabhängig davon, wie das Verhältnis des einzelnen Erwachsenen zur Mathematik ist, das kindliche Denken und seine Entwicklung steht uns allen zunächst einmal sehr fern. Wir haben es schlicht und einfach vergessen.
Es bleibt dennoch eine spannende Frage, warum ein wissenschaftliches Gebiet, als das die Mathematik ja betrachtet wird, von den einen als „Himmel auf Erden“ und von den anderen als „Hölle auf Erden“ erlebt und erfahren wird? Woher kommt diese starke persönliche Betroffenheit?
Damit hängt auch die Frage zusammen, woher wir unsere Fähigkeit zur Mathematik überhaupt haben und wie sich diese Fähigkeit bei Kindern entwickelt. Diesen Fragen soll in weiteren Beiträgen nachgegangen werden.
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