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WIE ENTWICKELT SICH DER ZAHLBEGRIFF? - Teil 2

  • Autorenbild: Antje Bek
    Antje Bek
  • 13. Juli
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 13. Aug.

VOM ANSCHAULICHEN ZUM „NICHT-SINNLICHEN“ – WO PIAGET IRRTE


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Im letzten Beitrag wurde aufgezeigt, wie das kleine Kind Zahlen nur in Verbindung mit konkreten, sinnlichen Erfahrungen begreifen kann. Aber wie kommen wir dann im Laufe unserer Entwicklung dazu, einen Zahlbegriff zu bilden, der sich nicht mehr an konkrete Gegenstände bindet? Wie vollzieht sich der Sprung vom „Konkreten“, vom Anschaulichen zum„Nicht-Sinnlichen“1?


Genau mit dieser Frage beschäftigt sich die Entwicklungspsychologie schon sehr lange. Es kann vorweggenommen werden, dass man diesbezüglich bis heute nicht zu einem eindeutigen Ergebnis, d.h. zu einer tatsächlichen Erkenntnis gekommen ist. Es gibt aktuell allerdings sehr viele unterschiedliche Modelle, die wissenschaftlich diskutiert werden.2


Als bahnbrechend auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie gelten die Arbeiten von Jean Piaget.3 Seine ersten Veröffentlichungen erschienen in den Jahren 1924 bis 1931 und sie beeinflussen bis heute maßgeblich vor allem die Praxis in Kindergärten, Schulen und bei Fördermaßnahmen. Dies ist insofern erstaunlich, als es bereits seit den 1970er Jahren Untersuchungen gibt, die einzelne Aussagen Piagets zur Entwicklung des Zahlbegriffs widerlegen.4 Auch aktuellere Untersuchungen weisen auf diese Tatsache hin.5

 

Piaget vertrat die Auffassung, dass Kinder durch die Verinnerlichung gewisser „Regelhaftigkeiten der Außenwelt“ das Rechnen lernen. Dass dies nur bedingt der Fall ist und unsere mathematischen Fähigkeiten entscheidend auf inneren Erfahrungen beruhen, soll später noch genauer aufgezeigt werden. Zunächst geht es um beobachtbare mathematische Fähigkeiten im frühen Kindesalter. Deren Entwicklung beschreibt anschaulich die Entwicklungspsychologin Lauren Resnick.6

 

TAUSCHGESCHÄFTE

Resnick charakterisiert auf Grundlage entsprechender Untersuchungen, drei Möglichkeiten wie Kinder bereits im Vorschulalter zu Erkenntnissen über Zusammenhänge zwischen Mengen kommen, ohne die Mengen zahlenmäßig zu bestimmen. Sie unterscheidet deutlich zwischen dem Mengen- und dem Zahlbegriff. Dadurch bietet sie eine Alternative zu Piagets Theorie der „Pränumerik“ an.


Wir wollen uns diese drei Möglichkeiten einmal mit einem Vorgang verdeutlichen, der Kinder in den unteren Klassen sehr beschäftigen kann. Es geht dabei um das Tauschen sich je nach „Mode“ ändernder Gegenstände wie Karten, kleinen Plastikfiguren, Stickern, Glitzerbildchen etc. Welche Kompetenzen brauchen bzw. betätigen die Kinder, wenn sie sich auf derartige „Tauschgeschäfte“ einlassen? Wir nehmen einmal an, es handelt sich um das Tauschen von Karten.


1 VERGLEICHEN VON MENGEN

Besitzen zwei Kinder je einen Stapel mit Karten, dann können sie zunächst einmal leicht feststellen, wer mehr und wer weniger hat. Sie legen einfach die verschiedenen Stapel nebeneinander und sehen dann, wo mehr und wo weniger sind. Dazu müssen diese Stapel nicht gezählt werden. Allerdings könnten sie auch eine unterschiedlich große Menge von Murmeln, die nicht gestapelt werden können, vergleichen und bei genügend großem Unterscheid beider Mengen ohne zu zählen herausfinden, wer mehr und wer weniger hat!

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2 ZU- UND ABNAHME VON MENGEN

Jetzt fängt das Tauschgeschäft an. Kind A hat eine Karte, die Kind B noch braucht und umgekehrt. Sie tauschen, jeder gibt dem anderen eine von seinen Karten und erhält dafür eine andere Karte. Was beide dann auch wissen: Ach ja, ich habe jetzt noch genauso viele Karten wie vorher, erst ging eine weg und ich hatte eine weniger, dann kam wieder eine dazu. Dafür muss nicht nachgezählt werden.


Nehmen wir nun einen anderen Fall an: Kind A sieht, dass Kind B eine Karte hat, die es unbedingt haben will, weil gerade diese Karte noch fehlt. Jetzt kann es sein, dass Kind B ihm diese Karte geben würde, wenn Kind A ihm dafür zwei Karten gibt. Kind A ist nun klar, dass es anschließend die gewünschte Karte zwar besitzen würde, dass es dann aber eine Karte weniger als vorher hätte und es zögert daher zunächst. Kind B weiß, dass es nach dem Tausch eine Karte mehr als vorher hat. Es ist auch in diesem Fall nicht notwendig, die exakte Anzahl der Karten auf jedem Haufenoder den zahlenmäßigen Unterschied zu bestimmen.

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3 DAS GANZE UND SEINE TEILMENGEN

Was auch noch eine Rolle spielt, aber in diesem konkreten Fall die Kinder nicht unbedingt bewusst beschäftigen wird, ist die Tatsache, dass sich die Anzahl aller Karten trotz dieses auch ungleichgewichtigen Hin- und Her-Tauschens nicht verändert. In der Gesamtzahl aller Karten ist ein Stapel mit „vielen“ und ein Stapel mit „wenigen“ Karten enthalten. Selbst wenn sich der eine Stapel deutlich verkleinert und der andere deutlich vergrößert, ändert sich die Gesamtzahl nicht.

 

Sie wissen auch, dass jeder einzelne Stapel kleiner als die Gesamtmenge aller Karten ist. Beim Begreifen dieser Beziehungen zwischen Mengen geht es bereits um komplexere Vorgänge.

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FÖRDERUNG DER VORLÄUFERFÄHIGKEITEN

Die beschriebenen Fähigkeiten werden als Vorläuferfähigkeiten für spätere mathematische Kompetenzen betrachtet. Sie bilden sich im 1. Jahrsiebt aus, indem Kinder mit physischem Material umgehen und darüber sprechen!7 Fragt man sich, ob bzw. wie eine spezielle Förderung der Entwicklung dieser Kompetenzen im in Frage kommenden Lebensalter aussehen könnte, scheint mir die Aussage von Dr. Michael von Aster, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Berlin wesentlich und dem Lebensalter der Kinder angemessen zu sein:


„Diese Entwicklungsschritte erfolgen ohne systematische Unterrichtung im Kontakt mit dem sozialen und familiären Umfeld und sind eng an den anschaulichen sensomotorischen Gebrauch der Finger gebunden.“8 (Herv. im Orig.)

 

Nachahmungs- und Betätigungsmöglichkeiten in einer analogen, von Beziehungen geprägten Umgebung sind also die beste Voraussetzung für spätere mathematische Kompetenzen!

 

GIBT ES EINEN ZAHLENSINN?

Es gilt heute durch entsprechende Untersuchungen als gesichert, dass „bereits Säuglinge lange vor Einsetzen der Sprache ein basales Verständnis für Mengeneigenschaften zeigen“.9 Schon Babys im Alter von wenigen Monaten können die Größe von Mengen, erfassen und diese auch unterscheiden, wenn die Differenz zwischen zwei Mengen groß genug ist.10 Man nimmt sogar an, „dass bestimmte Aspekte der numerischen Kognition von Geburt an in ihren Grundzügen angelegt sind.“11

 

Für Piaget, der die Auffassung vertrat, dass Kinder durch die Verinnerlichung gewisser „Regelhaftigkeiten der Außenwelt“ (Hervorhebung d. Verf.) ihre mathematischen Fähigkeiten erwerben, war es daher undenkbar, dass gewisse angeborene numerische Kompetenzen schon bei Säuglingen vorhanden sein könnten. Darauf weist der Neurowissenschaftlicher Stanislaw Dehaene hin.12 Die aktuellen Erkenntnisse über entsprechende Fähigkeiten bei Säuglingen haben inzwischen sogar dazu geführt, dass Neurowissenschaftler einen angeborenen, intuitiven „Zahlensinn“ für möglich halten. Wie bereits erläutert, wird uns die Anzahl einer Menge nicht von einem der bisher bekannten Sinne vermittelt. Dass es also einen weiteren Sinn geben müsse, wird insbesondere von Dehaene, z.B. in seinem Buch „Der Zahlensinn oder warum wir rechnen können“, vertreten.13

 Worin das Mengenverständnis von Säuglingen begründet ist und welche Sinne für die Entwicklung der beschriebenen Vorläuferfähigkeiten eine Rolle spielen, soll in einem nächsten Beitrag erläutert werden.


1 Ich möchte hier den Begriff „abstrakt“ vermeiden. Denn es gibt durchaus die Möglichkeit, dass Mathematik für Kinder – und auch Erwachsene – etwas „Abstraktes“ bleibt. Das kann jedoch nicht Ziel des Mathematikunterrichtes sein.

2s. Krajewski, Kristin, Petra Krüspert and Wolfgang Schneider. Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen. Paderborn, 2016, S.13 ff.

3 Piaget, Jean. Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Weinheim, 2003

4 s. Krajewski, Kristin, Petra Krüspert and Wolfgang Schneider. Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen. Paderborn, 2016, S.18 ff.

5 ebd.

6 Resnick, Lauren B., Lesgold Sharon and Victoria Bill. From Proquantitatives to Number Sense. Universität Pittsburgh, 1990

7 ebd., S. 5

8 Aster, Michael von. In: Hans-Christoph Steinhausen (Hrsg.) Schule und psychische Störungen. Stuttgart, 2006, S. 207

9 Krajewski, Kristin, Petra Krüspert and Wolfgang Schneider. Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen. Paderborn, 2016, S. 14

10 Durch ausgeklügelte Untersuchungsmethoden ist man heute in der Lage zu solchen begründeten Annahmen zu kommen. Vgl. Krajewski, Kristin, Petra Krüspert and Wolfgang Schneider. Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen. Paderborn, 2016, S. 15

11 ebd., S. 14

12 Dehaene, Stanislas. Der Zahlensinn oder warum wir rechnen können. Basel, Berlin u.a., 1999, S. 55

13 ebd.

 

Dieser Beitrag erschien ebenfalls in der Juni-Ausgabe 2025 von erWACHSEN&WERDEN https://www.erwachsen-und-werden.de


Foto: John Vid auf Unsplash




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