MATHEMATIK UND DER OBERSCHENKELKNOCHEN
- Antje Bek
- 13. Aug.
- 5 Min. Lesezeit
WARUM KÖNNEN WIR ALLE MATHEMATIK?

Im letzten Beitrag konnte beobachtet werden, wie sich die mathematischen Fähigkeiten beim Kind in den ersten Lebensjahren entwickeln. Der Frage, welche menschenkundlichen Phänomene diesen Fähigkeiten bereits im Mutterleib zugrunde liegen und was sie mit Bewegung zu tun haben, soll in diesem Beitrag nachgegangen werden.
Mathematik – Ein Fach wie jedes andere!?
Für Klassenlehrerinnen an Waldorfschulen ist das Fach Mathematik – neben „Deutsch“ - das einzige Fach, das sie von der 1. bis zur 8. Klasse durchgehend unterrichten. Es ist auch das Fach, das innerhalb ihres gesamten Klassenlehrerinnendaseins die höchste Anzahl an Epochen[1], beansprucht. Geht man von drei Mathematikepochen (inkl. Geometrie) pro Schuljahr aus, handelt es sich immerhin um 24 Epochen während der achtjährigen Klassenlehrerzeit. Dazu kommen noch – von Schule zu Schule unterschiedlich – viele Übstunden. Daher verdient gerade dieses Unterrichtsgebiet ein vertieftes Verständnis.
Unterschied zwischen Naturwissenschaften und Mathematik
Während eines Vortrages, den Rudolf Steiner am 29. September 1920 vor Naturwissenschaftlern in Dornach hielt, wies er auf einen bedeutsamen Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und der Mathematik hin.[2] Die Beschäftigung mit diesem tiefgreifenden Unterschied, eröffnet ein menschenkundliches Verständnis, das wiederum wichtige Anregungen für den Anfangsunterricht im Rechnen geben kann.
In den Naturwissenschaften erwerben wir unsere Erkenntnisse auf der Grundlage von Experimenten, also auf dem Wege der Empirie. Das ist bei der Mathematik anders. Ein mathematischer Beweis kann ganz innerlich (nach)vollzogen werden und benötigt kein sinnlich wahrnehmbares Experiment in der Außenwelt. Gerade das macht einen mathematischen Beweis aus.
Erkenntnisgewinn ohne äußere Anschauung
Rudolf Steiner wies darauf hin, dass wir unsere Seele bei den Naturwissenschaften in einer ganz anderen Weise betätigen als bei der Mathematik. Er unterscheidet unsere Fähigkeit zu mathematisieren daher sehr deutlich von der Fähigkeit durch Wahrnehmungen an der äußeren Welt zu Erkenntnissen zu gelangen. Um welche Seelenfähigkeit handelt es sich denn, wenn wir mathematisieren und woher haben wir diese Fähigkeit überhaupt?
Warum können wir rechnen?
Diese Frage wurde bereits berührt, als wir uns bemühten, uns unserer Zahl-Vorstellungen bewusst zu werden.[3] Wir konnten erleben, dass wir in ein Gebiet gelangen, das sich als unabhängig von den Sinneserscheinungen zeigt bzw. nur noch letzte Reste derselben anklingen lässt, und welches sich unserem Bewusstsein sehr rasch entzieht, obwohl wir mit Zahlen täglich ganz selbstverständlich umgehen.
Gewöhnlich glauben wir ja, dass sich der Mensch die Zahlen ausgedacht hätte, „indem er immer eins zum anderen hinzugefügt hat. Das ist aber gar nicht wahr, der Kopf zählt überhaupt nicht.“[4],
so Rudolf Steiner am 16. August 1924 in Torquay.
Wir alle sind innerlich „durchmathematisiert“!
Die Fähigkeit im eigentlichen Sinne rechnen zu können erwacht – wie man auch wissenschaftlich beobachtet hat – ungefähr mit Beginn des Schulalters. Aber sie entsteht zu diesem Zeitpunkt nicht aus dem Nichts. Sie ist das Ergebnis einer Metamorphose, einer Metamorphose von Kräften, die – nach Rudolf Steiner – vom Zeitpunkt der Empfängnis bis zum Zahnwechsel im menschlichen Leib gewirkt haben.
„Es existiert in uns etwas bis zu diesem Zeitpunkte (dem Zahnwechsel, Anm. d. Verf.), das mathematisiert, das uns innerlich durchmathematisiert.“ [5]
Wie kann man sich klar machen, was das bedeutet? Inwiefern sind mathematisierende Kräfte in unserem Körper ab dem Zeitpunkt der Empfängnis tätig?
Wenn wir die neunmonatige Entwicklung des Leibes vom Verschmelzen zweier Zellen hin zur menschlichen Gestalt verfolgen, wie sie spätestens zum Zeitpunkt der Geburt ansichtig wird, lässt sich dies schon an wenigen Beispielen verdeutlichen:
Schauen wir uns den Leib von der Formbildung her an, dann erkennen wir – zunächst dominierend – eine runde Form, den kugeligen Kopf. Außerdem erkennen wir gerade Formen, die zylindrischen Knochen der Arme und Beine. Wir sind zudem vom Skelett her symmetrisch gebaut, auch manche Sinnesorgane und inneren Organe kommen paarweise, d.h. symmetrisch angeordnet vor. Deutlich lassen sich hier geometrische Gesetzmäßigkeiten erkennen, jedoch lebendig, d.h. künstlerisch in die sinnliche Erscheinung gebracht.
Wir sind zudem gezählt: Wir haben 10 Finger und Zehen, jeweils 5 an einer Hand bzw. an einem Fuß. Wir haben 5 Mittelhandknochen, 2 Unterarmknochen und 1 Oberarmknochen, das gleiche gilt für Füße und Beine. Kinder haben 20 Milchzähne, 10 oben, 10 unten bzw. 4 mal 5 Zähne, Erwachsene haben 32 Zähne, also 4 mal 8.
Mit der Geburt ist unser Skelett allerdings noch längst nicht ausgereift. Die Proportionen werden sich noch gewaltig verändern, Beine und Arme strecken sich, die Dominanz des Kopfes tritt zurück. Die Form der Wirbelsäule wird erst mit der Aufrichtung ihre typische S-Form erhalten, die Winkel der Knie- und Hüftgelenke werden sich durch das Laufen verändern, ein Fußgewölbe bildet sich aus: Das heißt, die gesamte Statik des Leibes, die uns den aufrechten Gang erst ermöglicht, ist mit der Geburt noch nicht vorhanden.
Mathematik und der Oberschenkelknochen
An einer Stelle des Vortrages charakterisiert Rudolf Steiner die Mathematik so,
dass wir beim Betrachten derselben vor einer „im inneren Anschauen, aber im inneren Anschauen ergriffenen Architektonik“[6] stehen.
Wie sehr sich diese Architektonik, die Rudolf Steiner in dem „ganzen Gewebe der Mathematik“[7] sieht, tatsächlich auch in unserem Inneren wiederfindet, lässt sich am schönsten an dem größten Röhrenknochen, dem Oberschenkelknochen zeigen.
Bei Säuglingen besteht die Knochensubstanz noch aus einem bindegewebsartigen, ungeordneten und weichen Gewebe. Erst im Laufe der Zeit entwickeln sich die für die Röhrenknochen so typischen kalkigen Knochenbälkchen.
Das Eindrucksvolle ist, dass die Oberschenkelknochen so gebaut sind, dass sie mit möglichst wenig Masse möglichst viel Gewicht, d.h. Belastung (er-)tragen. Dies bedeutet, dass der Oberschenkelknochen eine statische Meisterleistung ist und z.B. Vorbild für den Bau des Eifelturmes war.
Der Oberschenkelknochen muss bei bestimmten Belastungen (z.B. beim Landen nach einem Sprung) das Mehrfache des eigenen Körpergewichts tragen, wiegt aber selbst bei einem Erwachsenen nur ca. 500g. Bei den folgenden Abbildungen sieht man links einen Oberschenkelknochen mit den im Inneren angeordneten Knochenbälkchen und daneben eine Abbildung, auf der die Zug- und Druckkräfte, die im Inneren wirken, dargestellt sind. Vergleicht man beide Abbildungen, kann man die dargestellten Kräftewirkungen in der linken Abbildung auch in der Anordnung der Bälkchen erkennen.

Sicherlich erinnert insbesondere die rechte Abbildung auch die Leser an den Bau einer gotischen Kathedrale. Wie wunderbar wird hier das Wirken mathematisierender Kräfte in unserem Inneren sichtbar!
Durchmathematisieren durch Bewegung
Beim Kind entwickelt sich die Statik, und damit auch die Knochenbälkchen, erst mit dem Prozess der Aufrichtung, des freien Gehens, Laufens und Springens. Die Knochen müssen belastet und der Schwerkraft ausgesetzt werden, bevor sie sich auf diese Weise durchgestalten. Bemerkenswert ist zudem, dass sich die Anordnung der Knochenbälkchen, und damit deren Statik, selbst im Erwachsenenalter noch verändert, wenn die Knochen, wie z.B. bei Hochleistungssportlern, besonderen Belastungen ausgesetzt werden. Sie bilden sich zurück, wenn sich Menschen lange in der Schwerelosigkeit befinden oder bettlägerig sind.
Wir sehen also: Hat die Formbildung und das „Durchzählen“ unseres Körpers im Mutterleib noch ohne unsere Aktivität stattgefunden, ist dies nachgeburtlich nicht mehr der Fall. Das weitere „Durchmathematisieren“ wird dann nur durch die Bewegungs-Aktivität des Kindes ermöglicht und erhalten!
Dies gibt einen ersten Hinweis auf die Beteiligung der Sinne, hier des Bewegungssinns, an der Seelenfähigkeit „Mathematik können“. Der Frage wie die Methamorphose des Lebens-, Bewegungs- und Gleichgewichtssinns an der Rechenfähigkeit beteiligt sind, soll im nächsten Beitrag nachgegangen werden.
[1] Eine Epoche meint einen Zeitraum von 3 bis 4 Wochen, in dem jeden Morgen ein Unterrichtsthema über ca. 90 Minuten behandelt wird.
[2] Steiner, Grenzen der Naturerkenntnis, GA 322, Dornach 1981
[3] s. Antje Bek, Wie alt bist Du und wo siehst Du eine Zahl? – Zur Entwicklung des Zahlbegriffs Teil 1
[4] Steiner R. , Die Kunst des Erziehens aus dem Erfassen der Menschenwesenheit, 1989, S. 81
[5] Steiner, Grenzen der Naturerkenntnis, GA 322, Dornach 1981, S. 38 f.
[6] ebd., S. 35
[7] ebd.
Dieser Beitrag erschien ebenfalls in der August-Ausgabe 2025 von erWACHSEN&WERDEN
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