Siebter Vortrag vom 9. Oktober 1922[1]
Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs[2]
Vorbemerkung: Vor hundert Jahren sprach Rudolf Steiner in Stuttgart vor jungen Menschen, die zum größten Teil mit der Anthroposophie nicht vertraut waren. Worüber er damals sprach, scheint heute aktueller und brennender denn je zu sein. Daher habe ich mich entschlossen, eine kleine Serie zu beginnen. Je Beitrag möchte ich in der entsprechenden Reihenfolge auf einen der dreizehn Vorträge Rudolf Steiners eingehen. Es werden jeweils nur ausgewählte Gesichtspunkte der Vorträge behandelt, die in mir besondere Resonanz gefunden haben. Mit ist durchaus bewusst, dass dadurch andere wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. Wenn sich Menschen angeregt fühlten, dann selbst den erwähnten Vortrag zu lesen, wäre es mir eine große Freude! Den Link zum Vortrag findet man unten.
Wie kommt das Neue in die Welt?
Vor hundert Jahren sprach Rudolf Steiner zu Studenten über diese Frage, die sich einige von ihnen bewusst stellten, andere eher latent und unausgesprochen in ihrer Seele bewegten.
Wie aktuell diese Frage in der aktuellen Situation ist, wo sich manches, von dem wir glaubten, dass es längst überwunden sei, nun zu wiederholen scheint oder bis in die Grundfeste hinein in Frage gestellt wird! In allen Bereichen des sozialen Organismus können wir wahrnehmen, dass es so nicht weitergehen kann: Im Geistesleben (Schulen, Universitäten, Medizin, Wissenschaft...), im Rechtsleben (staatliche Maßgaben, Rechtssprechung ), im Wirtschaftsleben.
Zwei Irrwege
Wie kann unter diesen Verhältnissen das Neue in die Welt kommen? Rudolf Steiner nennt zwei Wege, auf denen es nicht in die Welt kommen kann. Der eine ist der, dass man sich durch die Hinwendung zu entsprechender spiritueller Literatur (damals nannte er die theosophische Literatur) „einlullen“ lässt. Sein Urteil war deutlich: „Denn was in theosophischen Büchern steht, ist zum großen Teil seelisches Schlafmittel.“ [3]
Der andere ist der, dass man alles aus sich selbst heraus entwickeln will, dass man nichts mehr von außen in sich aufnehmen möchte, auch aus Enttäuschung über das, was man bisher von Eltern, Lehrern, Wissenschaftlern usw. gehört hat, sondern lieber abwarten will, bis das Neue an einen herankommt. Rudolf Steiner fragt dann etwas provozierend, aber mit Humor: „Meine lieben Freunde, fragen Sie viele von denen, die so gesprochen haben, ob das Neue an sie herangekommen ist, ob wirklich die Tauben der großen Menschheitserlösung denen, die diese tiefe Sehnsucht entwickelt haben, gebraten in den Mund geflogen sind.“ [4]
Die „große Menschheitserlösung“ ist bis heute nicht eingetreten. Im Gegenteil: Es zeigt sich für den, der es sehen möchte, deutlich, dass die uns auf wissenschaftlichen Grundlagen vermittelten Gedanken über Mensch und Welt, genau in die Situation geführt haben, in der wir nun sind. Durch Abwarten, durch Warten auf das Neue, auf die Transformation, auf die große Veränderung, wird sich auch in Zukunft nichts in Richtung auf „das Neue“ bewegen.
Wissenschaft als geistig-seelische Nahrung
Die vor hundert Jahren in der damaligen Jugend entstandene Sehnsucht nach dem Neuen besteht auch heute noch und nicht nur in der Jugend. Ja, sie ist heute vielleicht noch dringlicher, zumindest bei vielen Menschen wesentlich bewusster als damals. Doch es ist die Frage geblieben: Wie kommt das Neue in die Welt?
„Diese wirkliche Sehnsucht nach einem Neuen kann nicht anders erfüllt werden als dadurch, dass man sich als Mensch mit etwas durchdringt, was nicht von dieser Erde ist.“ [5] Was ist damit gemeint, mit was soll sich der Mensch durchdringen, das nicht von dieser Erde ist? So wie sich die Lunge mit Luft durchdringen muss, wenn sie lebendig bleiben will, benötigt der Mensch geistig-seelische Nahrung. Die Lunge kann die Luft so wenig ihrem eigenen Organ entnehmen wie die irdische menschliche Seele die geistig-seelische Nahrung aus sich selbst bzw. ihrem Körper entnehmen kann. Rudolf Steiner spricht davon, dass es aus diesem Grunde eine neue Wissenschaft braucht, die unserer Seele Nahrung geben kann, eine Wissenschaft, die unsere Seelen erwärmt und uns nicht kalt lässt wie die Wissenschaft, die sich eine neutrale Objektivität als oberstes Ziel gesetzt hat. Eine Wissenschaft[6] vom Geiste eben deshalb, weil es heute darum geht, dass wir voll wach zu geistigen Welten vordringen, dass unser Seelenleben ganz bewusst dabei ist – und nicht eingeschläfert wird. Nicht über nebulöse Mystik/Esoterik soll gesprochen werden, sondern über Realitäten, die jeder im Leben wahrnehmen kann.
Der verborgene Mensch
Rudolf Steiner nimmt als Beispiel Lehrer oder Dozenten, die das, was sie ihren Schülern oder Studenten vermitteln wollen, aus einem Buch vorlesen. Es mag äußerlich so erscheinen, als ob die jungen Menschen das als ganz natürlich oder normal erleben. Wer denkt, dass dem tatsächlich so sei, der würde schon geistige Welten abstreiten. Man kann aber auch von folgendem Gedanken ausgehen, der die geistige Welt mit einbezieht: In jedem, der als Schüler oder Student vor einem sitzt, lebt noch ein verborgener Mensch. Dieser verborgene Mensch ist - insbesondere als Kind - viel weiser als der, den wir mit den Sinnen wahrnehmen, er ist eine übersinnliche Realität. Dieser verborgene Mensch empfindet: Warum soll ich das denn lernen, was der, von dem ich lernen soll, es selbst nicht weiß und vor- oder ablesen muss? Der ist doch viel älter als ich und weiß es selbst nicht! Der verborgene Mensch in den Kindern erlebt eben ganz deutlich, ob der Lehrer sich mit dem verbunden hat, was er erzählt oder nicht und das hat eine Wirkung. Davon kann sich jeder, der unterrichtet, selbst überzeugen. Es ist etwas ganz anderes, ob den Kindern im so genannten Erzählteil vorgelesen wird oder ob sich die Lehrerin selbst das angeeignet hat, was sie den Kindern dann frei erzählt. So konkret meint Rudolf Steiner den Umgang mit dem, was übersinnlich ist.
Vertrauen und Erkenntnis
In diesem Zusammenhang kommt er auch auf die Besonderheit bei der Vermittlung der erwähnten geistig-seelischen Nahrung zu sprechen. Er verweist auf seinen Vortrag am Tag zuvor, in dem es um das „Vehikel“ des sozialen Lebens ging, nämlich um das notwendige Vertrauen von Mensch zu Mensch. Wenn dieses Vertrauen da ist, dann wird es auf dem geistig-seelischen Gebiet zum Vehikel, zum Quell für ein eigenes geistig-seelisches Erleben. Rudolf Steiner spricht es nicht direkt aus, aber es ging ihm in der damaligen Situation offensichtlich darum, dass er auch über das Vertrauen in ihn selbst sprach. Dass Menschen, die Vertrauen in ihn entwickeln können, durch das, was er mitzuteilen hatte, selbst geistig-seelische Erlebnisse haben können. Er formuliert es noch dezidierter: Die Mitteilungen eines anderen Menschen können einen dann innerlich wie entzünden und dadurch zu einem Erkenntnismittel, das nichts mit „Glauben“ zu tun hat, werden.
Vertrauen zu Rudolf Steiner
Wie kann man denn Vertrauen entwickeln in Rudolf Steiner, auch heute noch, wo wir ihn ja nicht mehr als lebendigen Menschen erleben, sondern nur seine Schriften und Vorträge lesen können? Ein Weg ist es, seine Aussagen zunächst einmal als „Arbeitshypothesen“ zu nehmen, sie nicht zu glauben, sondern im eigenen Leben zu überprüfen. So war für mich der Karmagedanke vor 35 Jahren etwas sehr Absonderliches, ein Gedanke, den eigentlich nur etwas merkwürdige Menschen bewegten und ernst nahmen. Ich habe dann einfach mal den Versuch gemacht, was sich ergibt, wenn ich diesen Gedanken probeweise annehme. Mein ganzes Leben und Erleben hat sich dadurch verändert, weil es etwas ganz anderes ist, ob ich davon ausgehe, dass der Mensch erst bei der Geburt sozusagen „geboren“ wird oder ob er bereits ein vorgeburtliches Leben und vorherige Erdenleben hatte und damit auch noch weitere Leben nach dem jetzigen haben wird. Wer in diesem Bewusstsein auf Kinder, auf andere Menschen, auf das eigene Leben schaut, der tritt in ein ganz anderes, Verständnis förderndes Verhältnis, zu dem, was ihm begegnet. Ist der Karmagedanke heute in unserer westlichen Zivilisation bereits viel anerkannter als noch vor 35 Jahren, so lassen sich immer noch Gedanken in Rudolf Steiners Werk finden, an denen man zu „knacken“ hat, weil sie einem so fremd erscheinen. Sie im Leben zu überprüfen, kann ein Weg sein im Laufe der Zeit auch Vertrauen in Rudolf Steiner zu entwickeln. Sich aus Vertrauen zu ihm für die Anthroposophie zu öffnen, damit das Neue auf diesem Vehikel in die Welt kommen kann, dazu wollte er damals die jungen Menschen ermutigen!
[1] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 100 - 113 [2] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217
[3] ebd. S. 107 [4] ebd. S. 108 [5] ebd. S. 109 [6] s. dazu auch den Beitrag von Herbert Ludwig, Über die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie, https://fassadenkratzer.wordpress.com/2022/12/16/uber-die-wissenschaftlichkeit-der-anthroposophie/
Foto Hansjörg Keller / Unsplash
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