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AutorenbildAntje Bek

Die Unmenschlichkeit objektiver Wissenschaft und das innerste Anliegen der Waldorfpädagogik


Zweiter Vortrag vom 4. Oktober 1922[1]

Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs[2]


Vorbemerkung: Vor hundert Jahren sprach Rudolf Steiner in Stuttgart vor jungen Menschen, die zum größten Teil mit der Anthroposophie nicht vertraut waren. Worüber er damals sprach, scheint heute aktueller und brennender denn je zu sein. Daher habe ich mich entschlossen, eine kleine Serie zu beginnen. Je Beitrag möchte ich in der entsprechenden Reihenfolge auf einen der dreizehn Vorträge Rudolf Steiners eingehen. Es werden jeweils nur ausgewählte Gesichtspunkte der Vorträge behandelt, die in mir besondere Resonanz gefunden haben. Mit ist durchaus bewusst, dass dadurch andere wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. Wenn sich Menschen angeregt fühlten, dann selbst den erwähnten Vortrag zu lesen, wäre es mir eine große Freude! Den Vortrag findet man hier


Stehen vor dem Nichts

Im zweiten Vortrag des so genannten „Jugendkurses“ bemüht sich Rudolf Steiner von verschiedenen Gesichtspunkten aus die innere seelische Verfassung der vor ihm sitzenden jungen Zuhörer, aber auch der Menschheit im Allgemeinen zu charakterisieren. Mit den geschlossenen Fensterläden, als Bild für unsere innere Verfassung, hatte er den ersten Vortrag beendet. Mit einem anderen Bild beschreibt er im zweiten Vortrag, in welchem Verhältnis sich die menschlichen Seelen zum „allgemeinen Strome des Weltgeschehens“[3] befinden. Verstehen wir diesen Strom zunächst einmal als einen einheitlichen, lebendigen Organismus, betrachten wir ihn wie einen lebendigen Menschen. Nun können wir uns vorstellen, dass von diesem Organismus die Hand abgehackt oder abgeschnürt wird. Wenn wir uns nun in diese Hand einfühlen, was mit ein bisschen Phantasie durchaus gelingen kann, wie empfindet sich diese Hand jetzt selbst? Sie fühlt sich selbst (ab-)getrennt vom Ganzen, verdorrt, abgestorben. Rudolf Steiner spricht durch dieses Bild über Empfindungen, die tief in der Seele der Menschen liegen. Auch wenn sie dem Einzelnen nicht immer bewusst sind, so sind sie doch vorhanden. Häufig wird das Bewusstsein dafür durch schicksalsmäßige, tiefe Einschläge im Leben herbeigeführt. Viele Menschen hatten dieses Erlebnis – wie als ein gemeinsames Schicksal - in den vergangenen zweieinhalb Jahren, manche haben es nicht ertragen können und haben ihr Erdenleben beendet. Menschen etwa, die aus einer beruflichen Tätigkeit, einem Berufsleben wie herausgerissen wurden, das ihnen viele Jahre oder Jahrzehnte Freude und Erfüllung gebracht hat. Besonders betroffen davon sind Berufe, die mit Menschen zu tun haben: Lehrer, Pfleger, Ärzte, Polizisten oder Künstler und Selbständige etc. Durch eine völlig unerwartet neue Lebenssituation trat ins Bewusstsein: Ich fühle mich abgeschnitten vom allgemeinen Strom des Weltgeschehens, mit dem ich mich vorher noch durch meine Tätigkeit verbunden fühlen konnte. Ich stehe vor dem Nichts.


Schlafend-träumerisches Bewusstsein – Bleierne Schwere

Noch auf eine andere Weise charakterisiert Rudolf Steiner den Seelenzustand der Menschheit, der das Ergebnis einer Entwicklung ist, die im 15. Jahrhundert begann und mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts ihren vorläufigen Endpunkt erreicht hat. Er verwendet das Bild eines Menschen, der morgens aus dem Schlafe erwacht, aber nicht wirklich wach werden kann, weil er wie in einer Traumwelt gefangen bleibt, wodurch er wiederum seine Glieder als bleiern und schwer erlebt. Eine bleierne Schwere einerseits und andererseits das Verbleiben in einer Traumwelt – der Zustand der Menschheit.


Unmenschliches geht unter den Menschen herum

In diesem Zusammenhang kommt Rudolf Steiner auf die Rolle der Wissenschaft zu sprechen, die er nicht kritisieren will, die aber zum Erwachen des Menschen zu seinem Tiefsten nichts beitragen kann. Die „objektive Wissenschaft“ hat es sich gerade zum Ziel gesetzt, alles Menschliche aus ihr zu entfernen.[4] Selbst die Lehrer aus den Hochschulen seien gar nicht mehr für die Menschen, d.h. für die Studierenden da, sondern nur noch als Forscher für die Wissenschaft. „Die Wissenschaft ging also jetzt unter den Menschen herum, aber es ging etwas Unmenschliches unter den Menschen herum und nannte sich objektive Wissenschaft.“[5] Neben all den durchaus bewundernswerten Errungenschaften, die wir dieser Wissenschaft zu verdanken haben, darf doch gefragt werden: Wie viel Unmenschliches ging im vergangenen Jahrhundert und geht aktuell unter den Menschen herum, das sich auf diese Wissenschaft beruft, die aufgrund ihrer Objektivität jedoch nicht in Frage gestellt werden darf? Diese Wissenschaft wird uns nicht dazu verhelfen, die geschlossenen Fensterläden zu öffnen, Licht in innere Seelenfinsternis zu bringen, die Begegnung von Mensch zu Mensch zu durchwärmen. Im Gegenteil. Wie größenwahnsinnig wir in unseren alltäglichen Träumen sein können, hat wohl jeder schon einmal selbst erlebt. Dies sei jedoch nichts im Vergleich zum Größenwahn, zu dem uns das intellektualistische Denken, das von der objektiven Wissenschaft gefordert wird, führt. Diese Art der Wissenschaft träume nur von der Wirklichkeit, so Rudolf Steiner. Und dieser Traum führt zu einem immer deutlicher werdenden Größenwahn des Menschen, der sich über die Schöpfung stellen will. Dies lässt sich inzwischen an vielen sehr aktuellen Phänomenen beobachten - das Streben nach absoluter, von der Technik unterstützter Kontrolle über den Menschen, die Kontrolle über das Lebendige, über Krankheit, Geburt und Tod gehören mit dazu.


Das Nichts und die Freiheit

Wir alle stehen heute im Grunde vor dem Nichts, alles, was der Mensch noch an Verbindung zur geistigen Welt hatte, was ihm naturhaft oder durch seine Vorfahren gegeben werden konnte, ist dem Menschen verloren gegangen. Die Wissenschaft kann und will ihm dies nicht ersetzen. An diesen Punkt musste die Menschheit jedoch anlangen, an diesen Punkt muss jeder Mensch kommen. Denn erst dieser „Nullpunkt“ der eigenen Existenz ermöglicht dem Menschen überhaupt wahre Freiheit. Dieses „Nichts“ und die menschliche Freiheit gehören zusammen, ja, bedingen einander.


Existentielle Fragen

Im Verlaufe des Vortrages formuliert Rudolf Steiner nun, welche existentiellen Fragen sich aus dieser Situation, die heute noch deutlicher und daher bewusster als vor 100 Jahren erlebt werden kann, in den Seelen der Menschen ergeben:


„Wie werde ich wieder lebendig in der Seele?“[6]

„Wie war es mit dem Mysterium von Golgatha?“[7]

„Wie kommt man zum ursprünglichsten geistigen Erleben in der Menschenseele?“[8]

„Wie bringt der Mensch sein Tiefstes, das er in sich hat, zum Aufwachen, wie kann der Mensch sich erwecken?“[9]

„Wie finden wir in uns selbst das Unirdische, das Übersinnliche, das Geistige?“[10]


Innerstes Anliegen der Waldorfpädagogik

In diesem Zusammenhang kommt Rudolf Steiner auch auf die Waldorfpädagogik und die eigentliche Aufgabe der Waldorfschule zu sprechen. Was ist das innerste Anliegen dieser Einrichtung? Nicht die Vermittlung von Wissen im Sinne der objektiven Wissenschaft, überhaupt ist das Anliegen einer wirklich menschengemäßen Pädagogik nicht die Frage von Wissen oder Geschicklichkeit (z.B. des Lehrers im Umgang mit der Stoffvermittlung), sondern ihr innerstes Anliegen ist das Aufwecken, das Aufwecken dessen, was auf dem Grunde der einzelnen Kinderseele liegt. Auch das entspricht einem Empfinden, das heute bereits viele Menschen haben: Kinder sollen und müssen im Grunde nicht erzogen werden. „Die Waldorfschul-Pädagogik ist überhaupt kein pädagogisches System, sondern eine Kunst, um dasjenige, was da ist im Menschen, aufzuwecken. Im Grunde genommen will die Waldorfschul-Pädagogik gar nicht erziehen, sondern aufwecken.“[11] (kursiv durch Verf.) Eltern, auch Pädagogen, nehmen inzwischen bewusster wahr, dass etwas auf dem Grunde von Kinderseelen lebt, das sie selbst auch suchen. Vielen Kinderseelen ist das, was da auf ihrem Grunde lebt, heute bewusster als dies noch vor 100 Jahren der Fall war. Für eine Pädagogik, wie sie hier von Rudolf Steiner charakterisiert wird, ist jedoch entscheidend, dass die Pädagogen selbst aufgewacht sind, zumindest erwacht sind für die oben formulierten Fragen und dass sie dabei sind ernsthaft nach Antworten zu suchen. Wie ent-täuschend es wohl für schon bewusstere Kinderseelen sein muss, wenn sie schlafende bzw. träumende Erwachsene vor sich finden? „Erst müssen die Lehrer aufgeweckt werden, dann müssen die Lehrer wieder die Kinder und jungen Menschen aufwecken.“ Es geht darum auf bewusste Weise den Anschluss an den „fortlaufenden Strome der Weltentwicklung“ zu finden.


Es sei an dieser Stelle die Frage erlaubt, inwiefern das heutige Bildungssystem, aber auch die Medien genau das Gegenteil bewirken, insofern die Kinder und Jugendlichen gerade dadurch abgetrennt werden von dem, zu dem sie aufwachen könnten.


Der „Auf-Wecker“

Dass wir heute in einer Zeit leben, in der die Notwendigkeit besteht aufzuwachen bzw. in der sogar die Möglichkeit einer weitreichenden „Transformation“ existiert, dringt immer stärker ins Bewusstsein vieler Menschen. Allerdings bleibt häufig recht diffus, was damit eigentlich gemeint ist. Das Aufwachen, wie es von Rudolf Steiner charakterisiert wird, ist ein sehr umfassendes Erwachen und bedeutet eine wesentlich tiefgreifendere, aber auch konkretere Transformation, als das, worüber im Allgemeinen in Zusammenhang mit den aktuellen Krisen gesprochen wird. Was kann der Wecker sein, was kann uns aufwachen lassen? Dass die Wissenschaft nicht der notwendige „Auf-Wecker“ sein kann, ist vielen Menschen deutlich geworden. Wie können wir aber aufwachen zu dem, was wir als „Tiefstes in unserer Seele“ haben? Am Ende des Vortrages spricht Rudolf Steiner darüber, dass es nur einen „Wecker“ gebe und das sei der Geist, der „aus der Gegenwart heraus in uns arbeitet“[12]. Wie dieser Geist gefunden werden kann, darüber spricht er an den darauf folgenden Tagen.


 

Weiteres Zitat, das mich berührt hat:

"Heute redet man viel über Erziehung. Man weiß oft nicht, wie absurd es ist, wenn die Menschen über Erziehung reden. Warum redet heute fast jeder über Erziehung? Meist nicht darum, weil er einsieht, daß er so schlecht erzogen ist, sondern weil er findet, daß er wegen seiner schlechten Erziehung Schwierigkeiten im Leben hat. Und so reden die Menschen über Erziehung, weil sie finden, sie seien unerzogen. Dieses gesteht man sich ein; aber man hat niemals etwas Richtiges auf diesem Gebiete erlebt. Dennoch maßt man sich ein Urteil darüber an."[13]




[1] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation Pädagogischer Jugendkurs Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 27 – 42 [2] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217 [3] ebd., S. 35 [4] s. ebd., S. 28 [5] ebd., S. 28 [6] ebd., S. 35 [7] ebd., S. 38 [8] ebd., S. 39 [9] ebd., S. 35 [10] ebd., S. 41 [11] ebd., S. 36 [12] ebd., S. 42

[13] ebd., S. 31


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