Zehnter Vortrag vom 12. Oktober 1922[1]
Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs[2]
Vorbemerkung: Vor hundert Jahren sprach Rudolf Steiner in Stuttgart vor jungen Menschen, die zum größten Teil mit der Anthroposophie nicht vertraut waren. Worüber er damals sprach, scheint heute aktueller und brennender denn je zu sein. Daher habe ich mich entschlossen, eine kleine Serie zu beginnen. Je Beitrag möchte ich in der entsprechenden Reihenfolge auf einen der dreizehn Vorträge Rudolf Steiners eingehen. Es werden jeweils nur ausgewählte Gesichtspunkte der Vorträge behandelt, die in mir besondere Resonanz gefunden haben. Mit ist durchaus bewusst, dass dadurch andere wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. Wenn sich Menschen angeregt fühlten, anschließend selbst den erwähnten Vortrag zu lesen, wäre es mir eine große Freude! Den Link zum Vortrag findet man unten.
Wie lange entwickeln wir uns eigentlich auf „natürliche“ Weise weiter? Als Kind sehnen wir uns danach endlich groß zu werden, älter zu werden. Wir empfinden in diesem Alter noch stark, dass wir später etwas erleben und erfahren können, das uns in jüngerem Alter verwehrt bleibt. Aber wann hört es eigentlich auf, dass wir uns danach sehnen älter zu werden und warum?
Die eingangs erwähnte „Entwicklung auf natürliche Weise“ ist in dem Sinne gemeint, dass sie durch die Außenwelt wie von selbst vorangetrieben wird. Als „Außenwelt“ sei hier auch der eigene Körper verstanden, der in Kindheit und Jugend deutliche Wandlungen durchlebt. Einschneidend sind der Zahnwechsel, die Geschlechtsreife und das Ende des Wachstums. Mit jedem dieser körperlichen Entwicklungsschritte gehen innere, d.h. seelische Verwandlungen einher. Diese vollziehen sich quasi wie von selbst: Die neuen Lern-Möglichkeiten des Schulkindes, die neuen Beziehungs-Möglichkeiten des Jugendlichen und die Möglichkeit zur Selbst-Verantwortung zu Beginn der Zwanziger-Jahre.
Siebenjahres-Rhythmen ein Leben lang
Rudolf Steiner macht in dem 10. Vortrag des Jugendkurses seine Zuhörer darauf aufmerksam, dass die Entwicklungsschritte im Siebenjahres-Rhythmus jedoch nicht mit dem 21. Lebensjahr enden, sondern dass sie sich das ganze weitere Leben hindurch fortsetzen. Jeweils nach sieben Jahren – wobei das annäherungsweise zu betrachten ist – sind weitere Entwicklungsschritte möglich, nur sind sie äußerlich nicht mehr so einschneidend und innerlich betrachtet keine natürliche Selbstverständlichkeit mehr. Inzwischen gibt es immer mehr Menschen, die sich mit diesen weiteren Siebenjahres-Schritten und ihren Entwicklungs- bzw. Verwandlungsmomenten beschäftigen, manche haben dies so weit vertieft, dass sie andere auf ihrem Lebensweg mit einer Biografie-Arbeit auf anthroposophischer Grundlage begleiten.[3]
Abbauprozesse und seelische Entwicklung
Wenn wir uns wahrnehmend zunächst auf die rein leibliche Ebene beschränken, dann können wir erkennen, dass ungefähr ab dem 35. Lebensjahr die Abbauprozesse die Aufbauprozesse überwiegen. Wir zeigen erste Alterungserscheinungen, wie etwa eine nachlassende physischen Leistungsfähigkeit, wir beginnen rein körperlich zunehmend zu „verhärten“. Welche Bedeutung hat aber das für unsere innere, unsere seelische Entwicklung? Macht sie den Weg des Körpers mit oder kann die Seele weitere Erfahrungen machen, vertiefte Erkenntnisse gewinnen, neue Möglichkeiten entdecken und verwirklichen? Der „natürliche“ Weg ist – bereits etwa ab dem 26. Lebensjahr -, dass wir innerlich stehen bleiben auf dem Entwicklungsniveau, das wir bis dahin erreicht haben. Manchmal lernt man ältere Menschen kennen, von denen man den Eindruck gewinnen kann, sie seien in ihrer sozialen Reife auf der Stufe eines Mittzwanzigers stehen geblieben und hätten die später folgenden körperlichen Verhärtungsprozesse auch seelisch mitgemacht.
Wenn wir die Möglichkeiten des fortschreitenden Alters aber nutzen wollen, dann hängt dies für den weiteren Verlauf unserer Biographie allein von unserer eigenen inneren Aktivität ab. Die Kräfte, die für den alternden Leib nicht mehr benötigt werden, stehen uns dann seelisch zur Verfügung. Allerdings bewirkt nicht mehr die Anregung durch die Außenwelt unsere Entwicklung, sondern es steht in unserer eigenen Freiheit, ob wir die vom Körper frei werdenden Kräfte für unsere spirituelle Entwicklung nutzen oder nicht. Schicksalsschläge oder Krankheiten können uns immer mal wieder erinnern, dass es etwas „zu tun“ gibt, aber auch sie zwingen uns letztlich nicht.
Respekt vor dem Alter?
Rudolf Steiner macht darauf aufmerksam, dass dies in früheren Zeiten durchaus anders war, da dauerte die „natürliche“ Entwicklung bis in das 50. Lebensjahr hinein. Damals war das Verhältnis von Jung zu Alt auf selbstverständliche Weise ein anderes. Die jüngeren Menschen sehnten sich danach alt zu werden, weil sie wussten, dass sie dann Erfahrungen machen und Erlebnisse haben werden, die ihnen als jüngere Menschen noch nicht möglich sind. Sie schauten auf zu den älteren Menschen, weil die etwas erfahren hatten, was ihnen selbst noch bevor stand. Ich selbst habe in Südkorea noch einen schwachen Abglanz davon erlebt. Es ist dort selbstverständlich, dass ein älterer Mensch mehr „zu sagen“ hat als ein jüngerer, dass man allein aufgrund seines höheren Alters geachtet und geschätzt wird – eine Erfahrung, die in unseren westlichen Ländern so gut wie nie gemacht werden kann. Das ist allerdings in gewisser Weise auch berechtigt, denn in der heutigen Zeit macht allein die Jahreszahl keinen weisen Menschen aus uns.
„Der Mensch muss durch seine eigene innere Anstrengung dahin kommen, das Geistige zu finden... während dieses früher, von Jahr zu Jahr, je älter man wurde, naturgemäß hervorspross.“[4]
Innere Aktivität und „Philosophie der Freiheit“
Was aber ist mit der „inneren Anstrengung“ nun gemeint? Wir können uns das zunächst an Phänomenen verdeutlichen, bei denen es keine innere Aktivität braucht, die wir alle aber auf die eine oder andere Weise auch „lieben“. Wenn wir einen Film anschauen, ein Video - auch eines mit spirituellem Inhalt - im Internet sehen oder uns auf andere Weise „berieseln“ lassen, dann können wir dabei innerlich ganz passiv bleiben, wir suchen derartige Aktivitäten ja häufig regelrecht zur „Entspannung“ auf. Etwas ganz anderes ist es, wenn wir etwa einen Text Rudolf Steiners lesen, da müssen wir uns anstrengen, um etwas zu verstehen, da ist es notwendig Aktivität in unser Denken zu schicken.
Rudolf Steiner hatte bereits mehrfach in den vorhergehenden Vorträgen darauf hingewiesen, welche Bedeutung ein aktives Denken für die zukünftige Entwicklung der Menschheit hat, im zehnten Vortrag macht er nun darauf aufmerksam, welche Bedeutung diese Aktivität für unsere ganz persönliche Entwicklung haben kann. In diesem Zusammenhang weist er ausdrücklich auf sein Buch „Die Philosophie der Freiheit“[5] hin, das kein Buch sei, was man wie jedes andere lesen könne, sondern ein Buch, bei dem man etwas erleben kann, wenn man die dafür erforderliche Aktivität aufbringt. Dieses Erlebnis, nämlich das Erlebnis eines „höheren“, spiritualisierten oder auch „reinen“ Denkens ergreift den ganzen Menschen, es versetzt ihn in eine künstlerische Grundstimmung, die geprägt ist von der Anbindung an ein Geistiges. Das intellektuelle Denken, das wir alle mehr oder weniger gut beherrschen, geht von unserem Gehirn aus, wir können es als ein Denken erleben, das sich in unserem Kopfbereich lokalisieren lässt. Das aktive, spiritualisierte Denken verlagert sich eine Etage tiefer, wir erfahren es in unserem Brustraum, wir können es als „Herzdenken“ bezeichnen, ein waches Denken, das uns bis in unseren Herz- und Brustraum hinein erfüllt und von dort die Impulse in unserer Handeln schickt.
Das geistige Band zwischen den Generationen
Nun kommt Rudolf Steiner noch einmal auf das rechte Verhältnis von jüngeren Menschen zu älteren Menschen zu sprechen. Jüngere Menschen erleben ganz intuitiv, ob ein älterer diese innere künstlerische Grundstimmung entwickelt hat, ob dieser Mensch etwas kann, das er sich durch sein schon länger währendes Erdenleben erst erworben hat. Sie erleben dann einen Menschen, an den sie sich anlehnen wollen, von dem sie lernen wollen. Nicht unser Wissen macht uns zu geliebten Pädagogen, sondern das, was wir aus eigener innerer Anstrengung aus uns gemacht haben und machen. Und diese in uns selbst erweckte innere Aktivität kann dann auch den gesamten Unterricht durchziehen, der keine „Berieselung“ ist oder nur „Spaß“ machen kann, sondern der die Kinder selbst zur inneren Anstrengung anregt, sei es durch das Formenzeichnen, künstlerische Betätigung mit Farben, dem denkenden Verstehen von Naturgesetzen usw. Innere Aktivität macht trotz bzw. gerade wegen der Anstrengung tiefe Freude, sie macht uns und die Kinder lebendig, wirkt förderlich auf den Willen und damit auch der äußeren Passivität entgegen.
Wer heute die zunehmende Digitalisierung, die sicherlich noch weiter fortschreiten wird, beobachtet und die damit einhergehende innere und äußere Passivität, der wird einschätzen können, wie wichtig sowohl für die individuelle als auch für die menschheitliche Entwicklung eine Pädagogik ist, die ganz auf die Stärkung der inneren Aktivität und damit der Entwicklungskräfte der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet ist. Kinder und Jugendliche, junge Menschen sehnen sich nach Erwachsenen, die diese innere Aktivität selbst entwickeln und pflegen, Erwachsene aus denen „der Geist hervorsprießt“, wodurch sie ihnen Vorbild und richtungsweisend für ihren eigenen Weg sein können.
„In den Untergründen des Geisteslebens der Welt liegt gleichsam eine Kette, die von der Vergangenheit in die Zukunft hinüberreicht und welche die Generationen aufnehmen, forttragen, schmieden, fortbilden müssen. Diese Kette ist im intellektualistischen Zeitalter unterbrochen worden.“[4]
Tragen wir heute heute dazu bei, die Kette wieder fortzubilden?!
[1] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 141 – 155 [2] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217
[3] https://anthrowiki.at/Biografiearbeit, dort auch weitere Literaturhinweise zum Thema
[4] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 146
[5] Rudolf Steiner, Philosophie der Freiheit – Grundzüge einer modernen Weltanschauung, Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode, GA 4
[6] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 154
Foto Karine Avetisyan / Unsplash
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