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  • AutorenbildAntje Bek

Waldorfpädagogik – Eine Pädagogik der Liebe/Teil 1

Der Beitrag "Pädagogik auf Distanz – Geht das überhaupt?" hatte mit dem Satz geendet, dass es nun vor allem auf die Eltern ankäme. Dies hat zu wertvollen Nachfragen geführt, für die ich mich ganz herzlich bedanke, haben sie mir doch Anlass gegeben, selbst weiter darüber nachzudenken!


Mich beschäftigt schon lange die Frage: Was ist Waldorfpädagogik denn eigentlich? Ist Waldorfpädagogik das gleiche wie Waldorfkindergarten oder -schule? Kann ich als Lehrer Waldorfpädagogik nur dann umsetzen, wenn die Eltern voll hinter Waldorfpädagogik stehen? Ist Waldorfpädagogik an bestimmte „Äußerlichkeiten“ wie schön lasierten Wänden, Epochenheften, Monatsfeiern und Wachsblöckchen zu erkennen? Ist Waldorfpädagogik an bestimmte Orte, Menschen oder Zeitgeschehnisse gebunden? Und zu guter Letzt: Gibt es Kinder oder Klassen, die durch ihr Verhalten Waldorfpädagogik stören oder gar unmöglich machen?


Waldorfpädagogik als eine Pädagogik der Liebe zu bezeichnen, kann sehr platt, sentimental oder gar kitschig verstanden werden. Das wird auch ein Grund sein, warum Rudolf Steiner nur von Zeit zu Zeit auf die Bedeutung der Liebe in der Erziehung hingewiesen hat, jedenfalls wenn er über die Liebe der Erzieher zu den Kindern gesprochen hat. In dieser Hinsicht sprach er lieber über die Bedeutung der Selbsterziehung.


Über die Liebe der Kinder hat er dagegen immer wieder gesprochen. Jedes Menschenkind wird mit einem unglaublichen Maß an Hingabe geboren. Diese Hingabe nennen wir auch „Nachahmung“. Das Kind lebt in einer unbewussten Liebe zu allem, was um es ist. So heißt es in einem Gebet, das Rudolf Steiner für die kleinen Kinder gegeben hat:


Vom Kopf bis zum Fuß

Bin ich Gottes Bild

Vom Herzen bis in die Hände

Fühl ich Gottes Hauch

Sprech ich mit dem Mund

Folg ich Gottes Willen

Wenn ich Gott erblick

Überall, in Mutter, Vater,

In allen lieben Menschen

In Tier und Blume

In Baum und Stein,

Gibt Furcht mir nichts

Nur Liebe zu allem

Was um mich ist.[1]


Das kleine Kind lebt in Liebe, zu allem, was um es ist, und die Liebe strömt ihm aus allem, was um es ist, entgegen. Es ist noch eins mit der Welt. Wenn das, was ihm von außen entgegenkommt, nicht von Liebe durchströmt ist, dann kommt es zu Traumatisierungen, d.h. zu Verletzungen der Seele des Kindes. Die Liebe des Kindes zu seinen Eltern hört aber selbst bei den schlimmsten Verletzungen nicht auf! Misshandelte und missbrauchte Kinder wollen bei ihren Eltern sein! Begegnet der Liebe, die das Kind hegt, keinerlei menschliche Liebe, d.h. erlebt es Beziehungslosigkeit, dann verkümmert es nicht nur seelisch, sondern auch körperlich. In den ersten Jahren lernt das Kind Laufen, Sprechen und Denken, weil es diese große Liebe zu allem noch hat. Menschen, die es besonders liebt, werden am intensivsten nachgeahmt. Die Liebe, die sich in der Nachahmung offenbart, trägt also durchaus individuellen Charakter, sie ist kein Automatismus und auf Erwiderung angewiesen.


Wird das Kind älter, dann verwandelt sich die Liebe zur gesamten Mit-Welt, sie bekommt eine andere Qualität. Das Schulkind wird bewusster und damit auch getrennter von allem. Eine Brücke zu der kleinkindlichen Hingabe aber bleibt noch einige Jahre: Die Liebe zu einem oder mehreren Erwachsenen, von denen es nun lernen will. Je jünger ein Schulkind ist, umso mehr lernt es aus Liebe zum Menschen. Welche/n Menschen es nun besonders liebt, von wem es jetzt lernen möchte, bestimmt das Kind selbst. Je besser sich das Kind von einem Menschen verstanden fühlt, umso mehr Liebe kann es diesem Menschen entgegenbringen und umso stärker ist es motiviert (für diesen Menschen) zu lernen. Dies ist ja ein Grund dafür, dass KlassenlehrerInnen an Waldorfschulen jeden Tag in ihrer Klasse unterrichten, die Kinder wahrnehmen und dadurch immer besser verstehen, d.h. in ihrem wahren Wesen erkennen lernen. Dabei hilft ihnen auch die so genannte „Allgemeine Menschenkunde“[2], bei der es um die Erkenntnis des Menschenwesens überhaupt geht. Für Erwachsene kann nur Erkenntnis die Grundlage wahrer Liebe sein; eine Kollegin hat diese von Rudolf Steiner vor den ersten Waldorflehrern gehaltenen Vorträge auch ein „Buch über die Liebe“ genannt, in dem dieses Wort kein einziges Mal vorkommt. Waldorfpädagogik ist eine Erkenntnis-Pädagogik, unabhängig davon wie mühsam es einem auch immer wieder erscheinen mag, diese auf der Grundlage der Anthroposophie zu erringen und dadurch zu individualisieren.


Die Wirkung des geliebten Lehrers/Lehrerin auf das Kind kann so stark sein, dass Eltern zuhause „nichts“ mehr zu sagen haben, wenn es um schulische Inhalte geht. Das Kind will sich von ihnen in dieser Hinsicht nichts mehr sagen lassen. Das ist eine für Eltern oft schmerzliche, aber aus Sicht des Kindes sehr gesunde Reaktion!


Was bedeutet es nun unter diesem Gesichtspunkt, wenn Eltern zuhause mit den Kindern das arbeiten sollen, was die Lehrerin vorbereitet hat? Lernen ist dann gesund, wenn es aus Liebe geschieht. Falls die Kinder ihre Aufgaben gerne erledigen, dann ist es wunderbar! Doch es mag sich das gleiche Problem stellen wie ansonsten bei Hausaufgaben auch: Die Kinder, die dabei Unterstützung brauchen, wehren sich gegen die Unterstützung durch ihre Eltern. Sie wollen, dass das die Lehrerin tut. Und es wäre einfach fatal, die Kinder nun zum Lernen zu „zwingen“. Dadurch geschieht das Gegenteil dessen, was eigentlich gewollt ist. Die Kinder entwickeln eine Abneigung gegen das Lernen; darüber hinaus wird die Beziehung zwischen Eltern und Kind, die ja weiterhin auf der Liebe des Kindes zu seinen Eltern beruht, gestört. Für die Zukunft des Kindes ist damit nichts erreicht. Daher ist es gut, wenn die Eltern nun zuhause abspüren, welche Aufgaben das Kind mit Freude und Interesse erledigen möchte, zu welchen Aufgaben sie es gut motivieren können und alles andere einfach zu lassen. Das erfordert vielleicht Mut, aber ein Kind, das weiterhin lernen will, wird sich – spätestens, wenn es älter geworden ist – alles aneignen können, was ihm vermeintlich jetzt entgeht.


Das Gleiche gilt für alle digitalen Angebote seitens der Schule. Ein digitales Angebot ist immer nur ein Ersatz. Eine von der Lehrerin vorgelesene Geschichte auf einer Audiodatei ist nur ein Ersatz für eine in einer Gemeinschaft von Kindern frei erzählte bildhafte Geschichte. Das Kind freut sich vielleicht die Stimme der Lehrerin zu hören, aber seine eigene Liebe zu ihr strömt in einen leeren Raum, sie erhält keine Resonanz. Lesen Eltern das Märchen selbst vor, so steht das Kind in diesem Moment in direkter Beziehung zu demjenigen, der spricht. Da kann Liebe hin- und herströmen.


In einem folgenden Beitrag soll unter dem gleichen Gesichtspunkt auf älter werdende Schulkinder eingegangen werden.


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[1] Rudolf Steiner, Wahrspruchworte: Gebete und Sprüche für Mütter und Kinder, GA 40, S. 319 https://ia800907.us.archive.org/10/items/rudolf-steiner-ga-040/rudolf-steiner-ga-040.pdf [2] Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, Vierzehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 21. August bis 5. September 1919 und eine Ansprache vom 20. August 1919, Schulungskurs für Lehrer anlässlich der Begründung der Freien Waldorfschule in Stuttgart, Teil l, GA 293 https://ia903004.us.archive.org/31/items/rudolf-steiner-ga-293/rudolf-steiner-ga-293.pdf

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