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Zur Lage der Waldorfpädagogik in der aktuellen Situation

Von Antje Bek


„Vorerst möchte ich Sie aber darauf aufmerksam machen, dass ja unsere ganze Waldorfschul-Pädagogik einen therapeutischen Charakter trägt. Die ganze Unterrichts- und Erziehungsmethode selbst ist ja darauf orientiert, gesundend auf das Kind zu wirken. Das heißt, wenn man die pädagogische Kunst so einrichtet, dass in jeder Zeit der kindlichen Menschheitsentwicklung das Richtige getan wird, dann ist in der Erziehungskunst, in der pädagogischen Behandlung etwas Gesundendes.“ Rudolf Steiner, 6.2.1923


In dem oben angeführten Zitat bringt Rudolf Steiner in wenigen Sätzen etwas zum Ausdruck, das ein wesentlicher Kern der gesamten Waldorfpädagogik ist. „Gesundend“ auf das Kind zu wirken ist hier in einem noch umfassenderen Sinne gemeint, als wir es gemeinhin unter dem Begriff der „Salutogenese“, also der Wissenschaft von der Gesunderhaltung des Menschen verstehen.


Die Seele des Kindes kommt aus der geistigen Welt des vorgeburtlichen Lebens. Mit dem ersten Atemzug verbindet sich die Seele mit dem physischen Leib, der ihm durch den Vererbungsstrom, also von Mutter und Vater zur Verfügung gestellt wird. Nun können wir uns vorstellen, dass diese Seele, die aus einer völlig anderen Umgebung stammt, nicht ohne Weiteres „kompatibel“ ist mit dem Leib, mit dem sie sich verbinden möchte. Der Leib aber ist das Instrument, auf dem wir als Menschen, als seelisch-geistige Wesen unser Leben lang „spielen“, er bildet die Grundlage unseres Schicksals, unserer Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Wie sehr wir von ihm in dieser Beziehung abhängig sind, hat jeder schon einmal erlebt, den eine schwerere Erkrankung an das Bett gefesselt und in den eigenen Möglichkeiten vorübergehend eingeschränkt hat. Dieses Instrument wird nun im 1. Jahrsiebt erbaut bzw. umgebaut, sodass die Seele mehr und mehr in ihm Wohnung nehmen kann. Ist das Instrument bis zur Schulreife individualisiert, d.h. bestmöglich an das seelisch-geistige Wesen angepasst, geht es in den folgenden Jahren darum, dieses Instrument einzuspielen, damit es mit Beginn der Pubertät weitestgehend frei zur Verfügung steht. Dann kann darauf die Melodie des Lebens gespielt werden, die Verantwortung für das eigene Schicksal beginnt sich zu entfalten.


Nun kann man sich vorstellen, dass Leib und Geistseele nicht ohne Weiteres wirklich gut zusammenpassen, dass es da zu so genannten „Entwicklungsschwierigkeiten“, zu ausgesprochenen Krisen oder auch zu nur leichteren „Unstimmigkeiten“ kommen kann. Musiker und Instrument müssen sich erst aufeinander einstellen. Das ist es, was Rudolf Steiner damit meint, dass wir mit der Pädagogik gesundend auf das Kind wirken können. Wir können es dabei unterstützen, seinen Leib zum für ihn bestmöglichen Instrument zu gestalten und dann einzuspielen. Wir können aber auch das Gegenteil bewirken. Auch dafür gibt Rudolf Steiner immer wieder Hinweise. So kann eine zu stark einseitig intellektuelle Bildung oder auch eine ungezügelte Temperamentslage des Lehrers zu ernsthafteren Erkrankungen im Erwachsenenalter durchaus einen „Beitrag“ leisten.


Jede einzelne Unterrichtsstunde kann so gestaltet werden, dass die Kinder die Stunde gesünder verlassen als sie sie betreten haben. In der Zeit, als dies noch nicht verboten war, hatte der Lehrer die Möglichkeit beim Verabschieden der Kinder selbst abzuspüren, ob sie sich für und im Unterricht hatten erwärmen können. Waren die Hände der Kinder eher kalt? Dann hatte der Unterricht die Kinder zu stark im Kopf beansprucht? Waren die Hände gut warm? Dann hatten sich die Kinder wohl als ganzer Mensch mit den Inhalten verbinden können. Auch im Unterricht selbst kann wahrgenommen werden, wie es den Kindern geht: Wirken sie müde, blass oder unkonzentriert? Klagen Kinder über Kopf- oder Bauchschmerzen? Durch einen Wechsel der Methode, der Ansprache, der Aktivität kann dafür auf künstlerische Weise ein Ausgleich geschaffen werden. Ebenso, wenn die Kinder „überhitzt“, überengagiert und hochrot sind. Auch dann kann ein Ausgleich geschaffen werden. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich der gesamte Unterricht, indem er stets nach dem Gleichgewicht sucht, es nie „hat“ und gerade durch diese Lebendigkeit gesundend bis auf die Befindlichkeit und Konstitution der Kinder wirken kann. Das bedeutet eine echte Inkarnationshilfe für die kindliche Seele, wobei dem Erzieher und der Beziehung der Kinder zu ihm eine zentrale Rolle zukommt. Waldorfpädagogik ist Beziehungspädagogik!


Die Bedingungen auf diese Weise gesundend auf die Kinder einwirken zu können, haben sich nun drastisch verschlechtert. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich an dieser Stelle rein phänomenologisch auf die Situation schauen möchte. Ein Urteil darüber, ob die „Maßnahmen“ gerechtfertigt sind oder nicht, kann zu endlosen, ermüdenden bzw. sinnlosen Diskussionen führen, die an Glaubenskriege erinnern. Ein Blick auf die Phänomene allerdings ist keine Frage von „Meinung“. Mein persönlicher Eindruck ist, dass an vielen Waldorfschulen der Blick auf die Phänomene und deren Bedeutung für die Entwicklung der Kinder kein wirkliches Thema ist bzw. ein Thema ist, über das nicht offen gesprochen werden kann oder darf. Der Eindruck, dass die Kinder „das alles ganz toll machen“ oder dass sie „gar kein Problem damit haben“ kann kein Grund dafür sein, dass sich Pädagogen nicht mit der Frage auseinandersetzen, welche Folgen die aktuellen Maßnahmen für die kindliche Entwicklung haben können. Kinder würden es auch „ganz toll machen“, wenn wir ihnen jede Unterrichtsstunde einen Film zeigen oder Computerspiele spielen lassen würden und hätten damit sicherlich auch gar kein Problem. Kinder sind Menschen, die noch nicht lange auf dieser Erde sind und die alles, was wir Erwachsenen (mit ihnen) tun, zunächst einfach so hin- bzw. annehmen wie es ist. Sie lernen dieses Erdenleben ja erst kennen und sind dabei unglaublich offen und anpassungsfähig. Es ist die Aufgabe der Erwachsenen eine Umgebung zu schaffen, die Kindern einen optimalen Entwicklungsraum bietet und nicht von Kindern zu verlangen, dass sie sich an alles, was wir uns so einfallen lassen, anpassen müssen. Gerade Waldorfpädagogik stellt diese zentrale Frage: Was brauchst Du für deine gesunde Entwicklung?


Zu den Bedingungen, unter denen Unterricht nun durchgeführt werden soll, gehört „Social Distancing“ und im Allgemeinen ab Klasse 5 das Tragen von Masken. Dass soziale Distanz das Gegenteil dessen ist, was Kinder brauchen, wird wohl hoffentlich jeder Mensch einsehen können. Menschen sind soziale Wesen und brauchen die Nähe und Wärme anderer Menschen, Kinder sind elementar darauf angewiesen. Jetzt aber müssen sie in der Schule dazu erzogen werden von einander Abstand zu halten. Ihre eigenen Bedürfnisse, sich ungehindert den Klassenkameraden oder den Lehrern zu nähern, müssen sie unterdrücken. So lange, bis sie sich daran gewöhnt haben und diesen Abstand nun von sich aus einfordern – wie es bereits vereinzelt geschieht. Und warum? Weil sie selbst bzw. das andere Kind potentiell infektiös ist. Herr Lauterbach hat unlängst erst gefordert, dass wir alle doch so leben sollten, als seien wir selbst und alle anderen Menschen infektiös. Mit diesen Gedanken, die nicht den Tatsachen, d.h. der Realität entsprechen und die nichts weiter sind als eine Ideologie, werden die Kinder nun geimpft – allein durch die Einhaltung der Regeln in der Schule. Ihrem eigenen Herzen, ihren innersten Bedürfnissen zu folgen, wird ihnen abtrainiert. So werden sie schon – je jünger umso stärker – von sich selbst entfremdet. Welche Seele möchte sich gerne und freudig mit einem Leib verbinden, der eine ständige Bedrohung für andere ist?


An diesen Gedanken – jeder Mensch ist eine potentielle Gefahr für den anderen – erinnern nun zusätzlich noch die Mund-Nase-Bedeckungen. Kinder, die stundenlang Masken tragen müssen, klagen über Konzentrationsstörungen, Müdigkeit, Kopfschmerzen oder Schwindel. Auch Lehrer berichten, dass sich die Kinder mit Masken nicht gut konzentrieren können und die Kommunikation erschwert wird. Hinzu kommt noch, dass durch das geforderte häufige Lüften jetzt im Winter die Klassenräume oft so kalt sind, dass die Kinder mit dicken Jacken und Decken dort sitzen.


Waldorfpädagogik ist angetreten, im anfangs beschriebenen Sinne gesundend auf das Kind zu wirken. Unter den neuen Bedingungen stellt sich die Frage, ob in diesem Sinne noch von einer gesundenden Pädagogik gesprochen werden darf, zumal viele Elemente, die zur Gesundung der Kinder führen könnten – wie Singen, Flöten, Klassenspiele, Klassenfahrten, Feste etc. – auch nicht mehr stattfinden dürfen. Die Lehrer müssen bei den Kindern zunächst Regeln durchsetzen, die einer gesunden kindlichen Entwicklung nicht dienlich sind, um dann mit einer Pädagogik, die in vielen ihrer Elemente beschnitten wird, das von Außen eingeforderte Ungesunde wieder auszugleichen? Ganz abgesehen von der Frage, ob das überhaupt möglich ist, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines solchen Vorgehens.


Die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines solchen Vorgehens stellt insbesondere die Waldorflehrer, die aus bestimmten Gründen (die hier nicht diskutiert werden sollen) in den Maßnahmen keinen Sinn sehen können, vor eine innere Zerreißprobe. Wie sollen sie damit fertig werden können Tag für Tag von den Kindern etwas zu fordern, das sie als sinnlos, ja entwicklungsgefährdend betrachten? Sie müssen etwas tun, das sie freiwillig nie tun würden. Auf der anderen Seite fühlen sie sich eben für die Kinder verantwortlich und möchten sie nicht im Stich lassen. Sie möchten ihnen so viel Förderliches, Positives und Lebensfreude mit auf dem Weg geben, wie sie nur können. Diese innere Zerreißprobe fordert ihre Kräfte, sodass viele bereits am Rande derselben stehen. Die Kinder erleben in diesem Falle Lehrer, die etwas von ihnen fordern, hinter dem diese selbst nicht stehen. Die innere Gespaltenheit erreicht die Kinder über die „unterirdischen Drähte“, wie Rudolf Steiner es einmal genannt hat, auf jeden Fall. Das kann Kinder – je jünger umso mehr – zutiefst in ihrer Beziehung zum Erwachsenen verunsichern. Hinzu kommt, dass die meisten dieser Lehrer ein gespaltenes Kollegium und eine gespaltene Elternschaft erleben sowie sich selbst mehr oder weniger ausgegrenzt fühlen.


Weiterhin gibt es die Lehrer, die voll und ganz hinter den Regeln stehen. Dafür kann es verschiedene Motive geben: Die Furcht vor der Krankheit als Gefahr für sich selbst oder andere, das Bedürfnis sich an Regeln und Gesetze zu halten, die Furcht vor Konsequenzen (Bußgelder, Schließen der Institution, Abmahnungen, Eltern, Verlust des Arbeitsplatzes etc.). Auch das führt zu entsprechenden inneren Haltungen, die sich den Schülern mitteilen. Ein ängstlicher Lehrer wird es schwer haben, den Kindern Lebensmut und Lebensfreude zu vermitteln, wichtige Faktoren im Zusammenhang mit Salutogenese.


Sicherlich sind hiermit nicht alle Motive erschöpft, die ein Pädagoge im Umgang mit den Regeln haben kann. Jeder mag sich selbst prüfen, welche davon – und es können durchaus mehrere sein – auf ihn zutreffen.


Wichtig wäre es allerdings, dass ein offenes und wahrhaftiges Gespräch über diese Gesichtspunkte in den Kollegien möglich würde. Ein Gespräch, in dem das Interesse an den Kindern im Mittelpunkt steht und man sich ehrlich eingesteht, in welcher Situation man ist. Davon zu reden, dass nun Phantasie gefordert ist, sich für Entwicklungsmöglichkeiten in dieser Situation zu begeistern und zu behaupten, dass Waldorfpädagogik auf jeden Fall noch überall stattfindet, ohne dies vorher einmal tatsächlich geprüft und in den Blick genommen zu haben, kann in der jetzigen Situation nicht ausreichen, wenn einem die gesunde Entwicklung der Kinder im Sinne der Waldorfpädagogik tatsächlich am Herzen liegt.





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