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  • AutorenbildAntje Bek

Menschen- und Tierkunde - Liebe zu Mensch und Natur wecken

Zum naturwissenschaftlichen Unterricht in der 4. Klasse





Diesem Beitrag liegt ein Beispiel für eine Epoche zugrunde, das Rudolf Steiner selbst den ersten Lehrern gegeben hat. Er verband dies ausdrücklich mit der Hoffnung, dass jeder Pädagoge sein Beispiel als Anregung und Anstoß zu eigenen Ideen – auch für andere Themen – verstehen und studieren möge.


Während des ersten vierzehntägigen Lehrerkurses, den Rudolf Steiner im Som­mer 1919 in Stuttgart hielt, gab er den zu­künftigen Pädagogen ein anschauliches Beispiel dafür, wie man die Idee für eine Epoche, d.h. für eine drei- bis vier­wöchige Unterrichtsphase mit 2 Unter­richtsstunden pro Tag, entwickeln kann. Er wählte ein Thema aus den Naturwis­senschaften; die erste Menschen- und Tierkundeepoche1 ist gleichzeitig die erste naturwissenschaftliche Epoche für die Kinder während ihrer achtjährigen Klassenlehrerzeit.


Um eine Epoche zu planen, sind zu­nächst zwei Fragen wesentlich:

·     An welchem Punkt ihrer Ent­wicklung stehen die Kinder?

·     Wie komme ich den Kindern durch den Unterricht, d.h. sowohl durch die Me­thode als auch durch den Inhalt, so entgegen, dass dieser Unterricht die sich entwickelnden Kräfte der Kinder stärkt?


Liebe zu Mensch und Natur wecken

Im vierten Schuljahr haben viele Kinder einen wesentlichen Entwicklungsschritt bereits hinter sich. Ihr Selbst- und Welt­erleben hat sich entscheidend verän­dert, sie haben das „Paradies“, im Sinne des sich Eins-Fühlens mit der Welt, ver­lassen, ihr Blick auf ihre Umgebung ist ein anderer. Sie erleben sich nun – so wie wir Erwachsenen auch – als dieser Welt ge­genüberstehend, sie erscheint in eine „Subjekt-Objekt“-Beziehung zu zerfallen. Dennoch unterscheidet sich die Erkennt­nisfähigkeit der Kinder in diesem Alter von der unseren, sie verstehen die Welt vor allem in Bildern, abstrakte Gedanken sind ihrem Wesen noch fremd. Der na­turwissenschaftliche Unterricht kann nun dem Kind in seiner neuen Sicht auf die Welt entgegenkommen, und anderer­seits seine Fähigkeit in Bildern zu denken fördern. Das Kind er­hält auf diese Weise Seelennahrung und die Möglichkeit, sich wieder neu mit sei­ner Umgebung zu verbinden, um das Erlebnis der Trennung überwinden und gerne Bewohner dieser Erde werden zu können. Erzählt man den Kindern in diesem Alter von den bedroh­lichen Erscheinungen der aktuellen Zeit – wie etwa von der ökologischen Krise, der Klimakrise etc. – wird man in ihnen nicht Kräfte und Impulse wecken, die dazu führen können, sich im späteren Leben tatkräftig auf sinnvolle Weise für Mensch und Natur einzusetzen. Im Gegenteil, es werden Furchtkräfte aktiviert, die dann zu solchen Aktionen führen können, wie wir sie momentan bei den Klimaklebern erleben oder die sogar die weitere Zer­störung von Mensch und Natur fördern, weil kein liebevolles Verhältnis zu Mensch und Erde entwickelt werden konnte.  Denn das, was ein Kind fürchtet, wird es schwerlich lieben können.

Daher ist ein weiterer Gesichtspunkt für jeglichen Unterrichtsgegenstand ent­scheidend: Alles wird auf den Menschen bezogen, die Pflanzen- und Tierkunde genauso wie Chemie oder Physik in spä­teren Jahren. Daher handelt es sich auch nicht um eine Tierkundeepoche, sondern um eine Menschen- und Tierkundeepo­che.


Blick auf die Form(en) des Menschen

Diese Epoche beginnt mit dem Blick auf den Menschen. Gemeinsam mit den Kin­dern schauen wir die Gestalt des Men­schen unter dem Aspekt der Form­gestaltung an: Der runde, kugelige, unten etwas abgeplattete Kopf. Die langen, strahligen Gliedmaßen. Und dazwischen befindet sich der Rumpf mit seiner scha­lenähnlichen Form, die insbesondere beim Säugling, dessen Wirbelsäule noch keine S-Form ausgebildet hat, zu erken­nen ist. Für den Kopf können wir das Bild der Sonne verwenden, für die Brust das Bild des Mondes, der das Licht der Sonne reflektiert und nicht immer ganz zu se­hen ist.2 Die unterschiedlichen Formen kann man dann für die Kinder auch auf­zeichnen und mit ihnen gemeinsam plastizieren (s. Abbildungen).



Blick auf die Funktionen von Kopf, Rumpf, Gliedmaßen

Anschließend betrachten wir diese drei unterschiedlich geformten Glieder des Menschen nach ihren Funktionen: Am Kopf befinden sich die Sinnesorgane, die sich, wie etwa der Tastsinn, auch über den ganzen Körper erstrecken können. Diese Organe kann man wunderbar von den Kindern entdecken lassen und durch verschiedene Übungen zu Sinneserfah­rungen in ihrer Bedeutung für den Men­schen bewusst werden lassen. Der Kopf ist das Zentrum der Organe, durch die wir die Welt unverwandelt in uns aufneh­men können.


Mit der Nase haben wir aber nicht nur Geruchswahrnehmungen, sondern neh­men durch sie auch die Luft aus der Um­gebung auf. Diese geht dann hinunter in unser Brustsystem, in unsere Lunge und wir geben sie verwandelt, wir nennen es auch „verbraucht“, wieder ab. Daher müssen wir im Klassenraum auch immer mal wieder lüften. Wir alle atmen die Luft ein, die die anderen ausgeatmet haben, über die Luft sind wir immer mit den an­deren verbunden. Dieses Nehmen und Geben hängt mit unserem Brustsystem zusammen. Und noch etwas hängt mit unserer Atmung eng zusammen: Unsere Gefühle beeinflussen den Atemrhyth­mus, aber auch den Herzschlag. Wenn wir aufgeregt sind, atmen wir z.B. schnel­ler, auch der Puls kann sich beschleu­ni­gen. Wir können die Kinder ihren Herz­schlag fühlen lassen und bei einem an­deren Kind können sie auf Höhe der Lunge ihre Hände auf dessen Rücken le­gen und fühlen, wie sich der Brustkorb weitet und wieder entspannt.


Ähnlich schauen wir dann auf das, was wir durch den Mund aus der Umgebung aufnehmen und durch den Stoffwechsel, der ja sehr von der Tätigkeit unserer Gliedmaßen abhängig ist, zur „Energie­gewinnung“ völlig verwandeln und im Zuge der Verdauung auch wieder aus­scheiden. Entscheidend bei der Bespre­chung der menschlichen Gliedmaßen ist, dass wir auf die unterschiedliche Funktion der Füße und Beine bzw. der Hände und Arme beim Menschen einge­hen.


Blick auf niedere Tiere und Säugetiere

Nun gehen wir von dort zur Besprechung von Tieren über, durch die die Kinder ei­nen Bezug, eine Ver­wandtschaft des Menschen mit dem Tierreich erle­ben und empfin­den kön­nen.

Die kugelige Form, auch die große Sen­sitivität unseres Kopfes, finden wir bei den niederen Tieren, besonders an­schaulich bei der Sepia (Tintenfisch) wieder. Lebendige Schilderungen aus dem Leben und der Umgebung dieses nicht so bekannten Tieres werden das Interesse der Kinder für so manch be­sondere Eigenschaft der Sepia wecken! Die Beschreibung seines äußeren Er­scheinungsbildes kann man durch eine künstlerisch gestaltete Tafelzeichnung ergänzen. Die niederen Tiere stehen mit unserem Kopf in Beziehung; wenn wir etwa auf die Sepia schauen, erkennen wir neben der kugeligen Form auch menschenähnliche Sinnesorgane wie das Auge. Es fehlen ihr aber Rumpf und Gliedmaßen.3


Der Rumpf tritt bei den Nagetieren sehr in den Vordergrund. Rudolf Steiner schlägt die Maus als weiteres Tier aus der Reihe der Säugetiere vor und er gibt Hinweise, wie man alles das, was an der Maus „dran“ ist, ganz lebendig in seiner Funktion schildert: Die Zähne zum Nagen, die Barthaare zum Tasten, die Beine zum Laufen etc. Die walzenförmige Form der Maus mit ihrer spit­zen Schnauze und ih­rem schuppigen Schwanz lässt sich auch sehr schön plastizieren und da­mit an das Form­erleben der Kinder aus den ersten Schul­jahren anschließen. Mit den Säugetieren stehen wir durch unseren Rumpf in Be­ziehung, seine Funk­tion ist bei ihnen und bei uns recht ähn­lich, ebenso seine Form.


Nun schlägt Rudolf Steiner als nächstes zwei Tiere vor, bei denen weder das „Kopfmäßige“ noch der Rumpf dominie­rend sind, sondern die Gliedmaßen: Das Pferd und das junge Schaf, das Lamm also. Bildhafte Schilderungen der äuße­ren Erscheinung, der Lebensweise und Umgebung lassen die Tiere im Unter­richtsraum lebendig werden. Entschei­dend ist hier, dass die Kinder deutlich er­leben, dass die Gliedmaßen der Tiere immer dazu dienen, ihr Überleben zu sichern. Das Pferd flieht mit ihnen, es schläft auch im Stehen, es benutzt seine Beine, um Futter zu finden. Erst der Mensch hat das Pferd dazu erzogen, dass es ihm dient, sei es früher auf dem Acker oder heute noch zum Reiten.


Sowohl bei der Maus als auch beim Pferd dient alles, was sich am Rumpf befindet, dem Lebenserhalt, alles dient dem Rumpf, so drückt es Rudolf Steiner aus. Daher können wir die Beine des Pferdes auch wie einen Teil seines Rumpfes be­trachten, obwohl sie äußerlich so domi­nant erscheinen.


Der Mensch als Freiheitswesen

Dieser Gedanke lässt sich nur verstehen, wenn wir noch einmal auf den Beginn der Epoche zurückschauen. Beim Men­schen können wir deutlich Hände und Füße in ihrer Funktion unterscheiden. Un­sere Beine dienen – wie bei den Tieren – unserem Rumpf, sie tragen uns dorthin, wo wir hinwollen oder „müssen“, um un­seren Leib zu erhalten. Unsere Hände aber sind frei! Wir nutzen sie zwar auch, um unser Leben zu erhalten, aber über­wiegend können wir mit ihnen machen, was wir „wollen“. Wir können sie zum Be­ten benutzen, aber auch zum Schlagen. Mit unseren Händen können wir die Welt verwandeln, wir können mit ihnen Kultur schaffen oder auch zerstören. Das unter­scheidet den Menschen vom Tier, das macht ihn zu einem freien Wesen, das moralisch – und nicht instinktgebunden oder determiniert – handeln kann. Unser Kopf dagegen lässt sich in der Welt her­umtragen – Rudolf Steiner nennt ihn auch einen „Faulpelz“ – er nimmt nur entgegen, wird aber selbst nicht tätig in der Welt. Daher solle man den Kopf des Menschen auch nicht als den Teil unse­res Leibes anschauen, der uns zum Men­schen macht.


Der Gedanke, der der gesamten Epoche zugrunde liegt, ist also einerseits der, dass wir uns innig mit der Tierwelt ver­bunden fühlen können, und anderer­seits deutlich wird, was uns vom Tier un­ter­scheidet: An der aufrechten Haltung des Menschen, die erst die freie Betäti­gung der Hände ermöglicht, ist zu erken­nen: Der Mensch ist – anders als die Tiere – ein Wesen, das zur Freiheit und damit zur Moralität veranlagt ist. Dieser Ge­danke durchzieht die ganze Epoche; er wird je­doch nicht rein gedanklich be­handelt, sondern durch den Gang des Unterrich­tes für die Kinder in anschau­liche Bilder gebracht.  Mit lebendigen in­neren Bil­dern von Mensch und Tier sowie damit verknüpften Gefühlen gehen die Kinder dann ab der 9. Klasse in die Ober­stufe. Dort können die Lehrer auf dieser Grund­lage aufbauen – vorausgesetzt sie wis­sen durch guten Austausch der Leh­rer untereinander davon – und etwa die Idee der menschlichen Freiheit auf ge­danklichere Weise besprechen und auch befragen.

 

Literatur und Anmerkungen

1 Rudolf Steiner: Erziehungskunst. Methodisch-Di­daktisches. GA 294, Dornach 1990, S.95-110 2

2 Nähere Ausführungen zur Sinnhaftigkeit dieser beiden von Rudolf Steiner vorgeschlagenen Bilder sowie weitere Erläuterungen zur Epoche findet man hier: Antje Bek: Die erste Menschen- und Tierkundeepoche – Allgemeine Menschenkunde als Unterrichtsinhalt? In: Peter Lutzker/Tomáš Zdražil (Hrsg.), Zugänge zur Allgemeinen Men­schenkunde Rudolf Steiners – Wissenschaftliche, künstlerische und schulpraktische Perspektiven, Edititon Waldorf, Stuttgart 2019.

3 Die „Arme“ der Sepia sind in erster Linie Ge­schmacksorgane, d.h. sie haben die Funktion ei­ner Zunge, mit der z.B. die Kuh auch „greifen“ kann. Siehe dazu nähere Ausführungen bei Ernst Mi­chael Kranich: Wesensbilder der Tiere, Einfüh­rung in die goetheanistische Zoologie, Stuttgart 2004.


Dieser Beitrag erschien zuerst im Online-Magazin erWACHSEN&WERDEN 10/23, Oktober 2023

 

Fotos: Antje Bek



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