Auf dem Blog der Info 3 - Zeitschrift und Verlag - erschien ein Gastkommentar von Jost Schieren[1], Professor an der Alanus Hochschule, in dem er zum Mord an Wladimir Putin aufruft. [2]
Um nicht missverstanden zu werden, muss man heute erst einmal einige Dinge gleich zu Beginn klar stellen:
Ich bin gegen Krieg, gegen jeden Krieg. Krieg hat noch nie und wird auch nie zum Frieden führen. In diesem Punkt stimme ich mit Jost Schieren zu 100% überein und kann mich auch sehr gut mit seinen Schilderungen während seines Verfahrens zur Wehrdienstverweigerung sowie seinen Hinweis auf 1914 und 1939 identifizieren. Nach den großen Friedensdemonstrationen 1981 und 1982 in Bonn und kurzer politischer Aktivität in der Friedensbewegung war mir klar geworden, ich muss etwas tun, wenn ich für den Frieden wirken möchte.
Da ich als Frau keinen Zivildienst leisten konnte, habe ich schließlich Mitte der 80er Jahre für 1,5 Jahre einen freiwilligen sozialen Dienst mit „Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste“ in Israel abgeleistet, was für die männlichen Freiwilligen damals als Zivildienst anerkannt war. Insofern bin ich im gewissen Sinne auch eine „Wehrdienstverweigerin“. Zusätzlich habe ich mich mit meinem Dienst in einer sozialen Einrichtung in Israel der Schuld (Karma) des deutschen Volkes im Sinne eines „Sühnezeichens“ gestellt. Durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus einerseits und dem Erleben von direkten Zeitzeugen aus Konzentrationslagern andererseits, steht für mich der Mensch bzw. die Menschlichkeit seit dieser Zeit ganz klar über allem. Über jeglicher politischen Einstellung (die Kommunisten waren die ersten, die in Konzentrationslager kamen), über der sexuellen Orientierung (die Homosexuellen gehörten ebenfalls zu den Verfolgten), der religiösen Orientierung sowie der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk (Juden sowie Sinti und Roma). Und noch etwas habe ich aus dieser Zeit mitgenommen: All das, was damals an Gräueln geschah, konnte geschehen, weil es Menschen gab, die diese Gräuel begangen haben, wobei sie sich überwiegend durchaus auf dem Boden des damals gültigen Rechtssystems bewegten. Mir war durch meine Erfahrungen in Israel klar geworden: In dem Moment, wo die Menschlichkeit verloren geht, kann und werde ich Gesetze nicht einhalten, denn die Menschlichkeit steht darüber, so wie auch das Gewissen.
Auch darin kann ich daher Jost Schieren durchaus folgen, dass es Situationen geben kann, in denen man im so genannten „Tyrannenmord“ eine Berechtigung, ja eine Notwendigkeit sieht, auch wenn Mord gesetzlich untersagt oder als eine Form von Widerstand zumindest strittig ist, wie Schieren selbst schreibt. Die mutigen Attentäter des 20. Juli 1944 sind ein Beispiel für diesen Entschluss, bei dem sie ihr Leben riskiert und – so wie der von Schieren beispielhaft erwähnte Martin Bonhoeffer – schließlich verloren haben.
In einem nächsten Schritt wird Putin von Schieren zu einem Tyrannen erklärt, indem er ihn als einen „Despot, ein Autokrat, ein gewissenloser Mörder, ein Unterdrücker seines eigenen Volks, ein dreister Lügner, ein Zerstörer von Freiheit und Frieden in Europa“ bezeichnet. Ich möchte diese Behauptungen gar nicht in Frage stellen, er mag ein wirklich großer Verbrecher sein – er ist ein Mensch. Nun fragt sich Schieren zum Ende seines Beitrages, was er angesichts der aktuellen Lage, in der „Tausende wegen eines einzigen Wahnsinnigen sterben müssen“ tun solle – diese Frage stellen sich aktuell sicherlich viele Menschen. Und hat er vorher vom Tyrannenmord gesprochen, der – wie auch von mir dargelegt – durchaus in bestimmten Situationen seine Berechtigung haben kann, so schreitet Schieren nun aber nicht zu demselben oder sucht nach Möglichkeiten, wie er ihn begehen könnte. Das schließt er von vorneherein aus. Der Kommentar beginnt und schließt stattdessen mit einem Aufruf an diejenigen, die die Chance dazu haben Putin zu töten. Wer es dennoch nicht tue, begehe nach Schierens Auffassung unterlassene Hilfeleistung. Ich werde diesen Aufruf, diese Anstiftung zum Mord, hier nicht zitieren.
Ein Professor für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Waldorfpädagogik scheint keine Schwierigkeiten damit zu haben einen Aufruf zum Mord mit dem Geist einer Pädagogik zu verbinden, die sich der Liebe zum Menschen verschrieben hat. Maßnahmenkritische Waldorfpädagogen, denen das Wohl der Kinder am Herzen liegt, werden in einem aktuellen Interview der Zeitschrift „Erziehungskunst“ von Nele Auschra, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, wie folgt charakterisiert: „Es gibt Waldorfpädagog:innen, (…), die sich aus Naivität, Sendungsbewusstsein oder einer Geisteshaltung, die die Anthroposophie als eine Art Offenbarung und Steiner als einen Propheten betrachtet, die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie kritisieren, das Virus leugnen oder simplifizierende Erklärungen verkünden.“[3] Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass einzelne Schulen, die durch maßnahmenkritische Haltungen auffallen, aus dem Bund der Freien Waldorfschulen ausgeschlossen werden können – entsprechende WaldorfpädagogInnen sind in dieser Schulbewegung nach Ansicht des Vorstandes nicht tragbar.
Ein Professor, der andere Menschen zum Mord anstiftet, kann weiterhin glaubhaft für die Ausbildung von WaldorfpädagogInnen tätig sein und diese Pädagogik im wissenschaftlichen Diskurs vertreten? – Wohin das führen mag?
[1] Jost Schieren ist · Mitglied des Vorstandes der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen. • Dekan, Institutsleitung, Professor Alanus Hochschule. • Mitherausgeber des Online-Journals „RoSE“ (Research on Steiner Education). • Mitbegründer und Mitglied bei ENASTE European Network of Academic Steiner Teacher Education. • Board Member bei Research Institute for Waldorf Education (USA). • Redakteur (Endredaktion) bei der Zeitschrift Anthroposophie der Anthroposophischen Gesellschaft Deutschland [2] https://info3-verlag.de/blog/killputin/?fbclid=IwAR2w1n4iun453sbsqnBKwid7vIZafLSaQ2VMZ21r6Du6Hro0lZlvHUyEyMg Anmerkung: Der Text wurde inzwischen entfernt, Info 3 äußert sich dazu wie folgt:
"Vom Netz zurückgezogener Text von Jost Schieren
Am 24. Februar begann der russische Überfall auf die Ukraine. Unter dem Eindruck von rollenden Panzern und Angriffen auf Wohngebiete und Flüchtende haben wir am 8. März auf der Website von Info3 einen scharfen Gastkommentar von Jost Schieren veröffentlicht. Angesichts der Opfer erschien es uns legitim, einen Text zu bringen, der in ungewöhnlich drastischer Form die Person Putins attackiert und sogar für ein Attentat auf den russischen Präsidenten plädiert. Journalistische Arbeit lebt immer davon, engagierten Gedanken Raum zu geben und dabei auch Risiken einzugehen. Mit einigem Abstand ist jedoch erkennbar, dass wir in diesem Fall über das Ziel hinausgeschossen sind. So hat dieser Text bei einer großen Anzahl von Leserinnen und Lesern Irritationen hervorgerufen, zumal der Autor zwar ausdrücklich als Privatperson geschrieben hat, aber stark in die Waldorfpädagogik eingebunden ist. Deshalb wurden auch Befürchtungen geäußert, der Text könne negative Auswirkungen für die waldorfpädagogische Arbeit haben. Eine solche Möglichkeit stand selbstverständlich außerhalb jeder Absicht. Am späten Abend des 9. März haben wir deshalb im Einvernehmen mit dem Autor entschieden, den Text wieder vom Netz zu nehmen. Dr. Jens Heisterkamp Anna-Katharina Dehmelt Ramon Brüll"
Den ursprünglichen Blogbeitrag findet man noch hier
[3] https://www.erziehungskunst.de/artikel/zeichen-der-zeit/fragen-zur-aktuellen-situation-der-waldorfschulen/
Foto: Bekky Bekks/Unsplash
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