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AutorenbildAntje Bek

Die Erziehungsfrage und die zwei Seiten der Sozialen Dreigliederung

„Wenn diejenigen, die schwärmen für die Ideen der Waldorfschule, nicht einmal so viel Verständnis entwickeln, dass ja dazu gehört, Propaganda zu machen gegen die Abhängigkeit der Schule vom Staat, mit allen Kräften dafür einzutreten, dass der Staat diese Schule loslöst, wenn Sie nicht auch den Mut dazu bekommen, die Loslösung der Schule vom Staat anzustreben, dann ist die ganze Waldorfschul-Bewegung für die Katz, denn sie hat nur einen Sinn, wenn sie hineinwächst in ein freies Geistesleben.“[i]





Im vorangegangenen Beitrag „Die Erziehungsfrage und die Zukunft der Menschheit“ wurde bereits angedeutet, dass die Soziale Dreigliederung im Menschen selbst veranlagt ist. Dies bedeutet, dass sie von jedem Menschen an dem Ort, an dem er steht, verwirklicht werden kann. Sie ist weder ein System noch eine Theorie, die den Menschen übergestülpt werden kann, sondern sie wird gesellschaftlich nur dadurch verwirklicht werden, dass möglichst viele Menschen bestrebt sind, sie bewusst zu leben und zu verwirklichen. Die Idee der sozialen Dreigliederung hat somit zwei Seiten, die eine ist die innere Seite des Menschseins, die andere ist die Gestaltung des äußeren sozialen Lebens. Zunächst soll nun auf die „innere Seite“ dieser Idee geschaut werden:


Wenn ein erwachsener Mensch einen konstruktiven Beitrag für die Gemeinschaft leisten möchte, bedarf es dreier Bedingungen:

  • Erstens ist es notwendig, dass er Begabungen und Fähigkeiten hat bzw. entwickelt hat, welche individuell sehr unterschiedlich sein können. Der Beitrag, den der Mensch für die Gemeinschaft leisten kann, hängt somit direkt und in erster Linie mit seiner Individualität zusammen.

  • Das zweite ist, dass der Mensch in der Lage sein müsste mit anderen Menschen in Frieden auskommen zu können. Auf dieser Ebene tritt der Einzelne in wechselseitige Beziehungen zu anderen Menschen, dort begegnen sich Individualitäten, unabhängig von Alter, Beruf, Begabungen, gesellschaftlicher Stellung etc.

  • Und zum dritten ist es notwendig, dass jeder Mensch schließlich den Platz findet, an dem er mit seinem Beitrag dem Wohle der Gemeinschaft dienen kann. In diesem Zusammenhang werden die anderen Menschen, die Gemeinschaft, die Menschheitsfamilie, aber auch die Mitwelt in den Blick genommen mit der Frage: Was brauchst Du? Was braucht Ihr? Und wie kann ich mit dem, was ich leisten kann, dazu beitragen?


Wir können erkennen, dass wir einerseits höchst individuelle Wesen sind, andererseits Wesen, die im ständigen Austausch mit anderen menschlichen Wesen sowie unserer Mitwelt stehen und zum dritten mit unserer Arbeit der Gemeinschaft dienende Wesen sein können. Alle drei Gebiete gemeinsam machen unser eigentliches Menschsein, aber auch den sozialen Organismus aus. Ein Mensch kann sich umso eher im erläuterten Sinne in und für die Gemeinschaft einbringen, umso mehr sich diese Gemeinschaft Verhältnisse geschaffen hat, in denen dies ermöglicht wird – ein gegenseitiges Wechselspiel. Diese „Verhältnisse“ hängen eng zusammen mit dem Ideal der Freiheit im Geistesleben, dem der Gleichheit im Rechtsleben und dem der Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben.


Förderlich ist z.B. ein freies Bildungswesen, in dem es vor allem darum geht, dass junge Menschen unter Berücksichtigung der sich entwickelnden Kräfte ihre Potenziale entdecken und Fähigkeiten ausbilden können. Gerade diese sind ja Voraussetzung für ihren zukünftigen ganz individuellen Beitrag zur Gemeinschaft. Genormte Lehrpläne, Lernziele, Kompetenzen, (Abschluss-)prüfungen, sowie alle Anweisungen, die in die individuelle pädagogische Freiheit der Erziehenden eingreifen, wirken kontraproduktiv. Wenn im Bildungsbereich der Grundsatz der Gleichheit - und nicht der der Freiheit - gilt, dann muss dies den sozialen Organismus, aber auch die sich dort betätigenden Menschen, auf Dauer krank machen. Ähnliche Beispiele lassen sich für die anderen Bereiche finden. Wenn es etwa möglich ist, sich Rechte zu kaufen oder anderweitig zu verschaffen (wer mehr Geld hat, hat mehr Rechte und damit mehr Macht; wer geimpft ist, hat mehr Rechte als Ungeimpfte), wird es den Menschen schwer gemacht friedlich miteinander auszukommen. Wenn der Egoismus durch entsprechende „Freiheiten“ im Wirtschaftsleben gefördert wird, dann wird es letztlich allen schlechter gehen.


„Niemand ist hoffnungsloser versklavt als jene, die fälschlicherweise glauben, frei zu sein“, Goethe


Die Waldorfschulen, die sich vieler Orts auch „Freie“ Waldorfschule/Rudolf-Steiner-Schule nennen, befinden sich in einer Situation, in der sie erkennen könnten, dass ihnen ihre Freiheit bis in den Klassenraum hinein genommen ist. Die LehrerInnen dürfen nicht mehr entscheiden, wie sie die Kinder begrüßen. Sie dürfen nicht mehr entscheiden, ob sie den Kindern überhaupt von Angesicht zu Angesicht – in doppelter Bedeutung gemeint – begegnen dürfen. Sie dürfen nicht mehr entscheiden, wie sehr sie sich auch physisch den Kindern nähern. Sie dürfen nicht mehr entscheiden, was sie mit den Kindern tun. Sei es Singen, Sprachgestaltung, Musizieren, Monatsfeiern, Klassenspiele, Klassenfahrten, Jahresfeste, Ausflüge. Die staatlichen Verordnungen regieren nun auch im Klassenzimmer und regeln das soziales Miteinander nicht nur dort, sondern auch im Schulgebäude und auf dem Pausenhof. Sie regeln, wer das Schulgelände wann und überhaupt betreten darf. Sie regeln, wer sich mit wem und wann im Schulgebäude treffen darf. Die Gesetze und Verordnungen zwingen den LehrerInnen und den SchülerInnen – allein durch die Dinge, die getan werden müssen und die nicht getan werden dürfen – zudem ein bestimmtes Menschenbild auf. Denn das kann man sich klar machen, allen Maßnahmen liegt ein durch und durch materialistisches Menschenbild zugrunde, ein Menschenbild, das den Menschen letztlich auf seinen physischen Leib reduziert.


Daneben bzw. darüber hinausgehend steht die Idee vom Menschen, wie sie von Rudolf Steiner im ersten Lehrerkurs charakterisiert wird: „Aber Sie werden alles auf den Menschen beziehen müssen. Zuletzt wird alles in der Auffassung des Kindes zusammenströmen müssen in der Idee vom Menschen. Diese Idee vom Menschen darf bleiben… Es ist sogar das Schönste, was man dem Kinde von der Schule ins spätere Leben mitgeben kann, die Idee, die möglichst vielseitige, möglichst viel enthaltende Idee vom Menschen. “[1]


Wie konnte es denn so weit kommen, dass der Staat mit seinen Gesetzen und Verordnungen so tief in die Pädagogik eingreift? Rudolf Steiner hat in dem Vortragzyklus „Die Erziehungsfrage als soziale Frage“ kurz vor Beginn des 1. Stuttgarter Lehrerkurses in Dornach, die Erziehungsfrage als eine der allerwichtigsten sozialen Fragen für die Zukunft der Menschheit bezeichnet.[2] Er hat im Verlaufe der Vorträge wiederholt betont, dass es ohne die Geisteswissenschaft, also die Anthroposophie, keine heilsame Zukunftsgestaltung für und durch die Menschheit geben wird: „Es ist eine ernste Sache, denn ich sage Ihnen ja nichts Geringeres damit, als dass es ohne Geisteswissenschaft keine soziale Umgestaltung für die Zukunft gibt; aber das ist wahr.“ – und jetzt wird Rudolf Steiner ganz praktisch: „Sie werden niemals die Möglichkeit bekommen, die Menschen zum Verständnis zu bringen in einer solchen Weise, wie es notwendig ist in Bezug auf diese Dinge wie Intuition, Imagination, Inspiration, wenn Sie zum Beispiel die Schule dem Staate überlassen“


Warum wäre es denn so wichtig gewesen, die Schule im Laufe der letzten 100 Jahre vom Staatwesen loszulösen, wie es Rudolf Steiner im einleitenden Zitat formuliert hat? Gerald Hüther hat – neben anderen - immer wieder darauf hingewiesen, dass und wie Schule als Institution im letzten Jahrhundert systemimmanent immer den Intentionen des Staates gedient hat. Aus ihr sollen Menschenkinder hervorgehen, die in der bestehenden Gesellschaft funktionieren. Früher brauchte es Soldaten und Arbeiter an Maschinen, heute braucht es unkritische Konsumenten, die möglichst wenige Fragen stellen.


Den nun folgenden Gedanken sei vorausgeschickt, dass ich sie nicht formuliere, um all denen, die an den Schulen tätig sind, daraus einen Vorwurf zu machen! Im Gegenteil, ich beziehe mich vor allem auch selbst darin ein. Aber die Frage sei erlaubt: Warum wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten auch und vor allem von WaldorflehrerInnen so wenig dafür getan, das Schulwesen (das im Übrigen nicht nur aus Waldorfschulen besteht!) aus dem Diktat des Staatswesens zu befreien - trotz vieler eindringlicher Mahnungen durch Rudolf Steiner? Haben wir nicht immer geglaubt, frei zu sein? Wir konnten doch unseren Lehrplan frei gestalten. Wir konnten uns selbst verwalten. Ja, klar, da gab es Kompromisse, die wir machen mussten. Da gab es staatliche Unterrichtsgenehmigungen für Lehrer. Da gab es die zentralen Prüfungen, nun gut. Aber waren wir uns nicht sicher, dass man auch in Vorbereitung auf die Prüfungen Waldorfpädagogik praktizieren kann? Dass man den Unterricht doch frei, auf anthroposophischer Grundlage gestalten kann, wenn man es denn kann und will? Haben wir nicht an vielen Schulen noch – an vielen aber auch nicht mehr – eine interne Gehaltsordnung? Waren wir als KlassenlehrerInnen nicht zumindest im Klassenraum wirklich frei? Steht nicht in unserem Grundgesetz, dass freie Schulen gegründet werden dürfen und wurden nicht immer wieder solche, auch Waldorfschulen, gegründet?


Aber auch: War/ist es nicht ein gutes Gefühl sein sicheres Gehalt vom Staat zu erhalten? Auch das Gehalt der WaldorflehrerInnen wird vom Staat finanziert. – Es sei die Frage erlaubt, ob es von daher nicht schon immer eine Illusion war, dass Waldorfschulen frei sind, wenn das Geld von einem Rechtssystem/Staat kommt, dessen Gedankenart jetzt bis in die letzte Ecke des Klassenzimmers regiert. („Niemand ist hoffnungsloser versklavt als jene, die fälschlicherweise glauben, frei zu sein.“). Nicht nur Beamte oder Lehrer, auch Arbeitslose, Kurzarbeiter, Wohngeld- oder Hartz-IV-Empfänger erhalten Geld von „Vater Staat“. Bezüglich der Lehrergehälter lässt sich daran auch so schnell gar nichts ändern, weil die Ersatzschulverordnungen entsprechend formuliert sind. Es sollte lediglich darauf hingewiesen werden, dass das Erwachen für die Realität ein durchaus schmerzhafter Prozess sein kann, den es auszuhalten gilt und bei dem eigene Versäumnisse einerseits sowie das erschreckende Ergebnis andererseits zunächst einmal nur wie zur Kenntnis genommen werden können. Mancher, der im Schlaf ausgeraubt wurde, musste am nächsten Morgen mit Erschrecken feststellen, was geschehen ist, während er schlief. Mag sein, dass er das ein oder andere nun unendlich vermisst, weil es vielleicht eine so kostbare Erinnerung war oder dringend benötigt wird. So ist in den letzten Jahrzehnten um uns herum viel geschehen, was nun plötzlich mit Schmerz und Erschrecken zur Kenntnis genommen werden muss. Jeden, der diese Erfahrung des schmerzvollen Erwachens, aber auch der eigenen Ohnmacht gemacht hat, kann dieses Erlebnis aber auch dazu wachrufen, jetzt seine geistigen Kräfte zu bündeln, um an dem Ort, an dem er steht, für das zu wirken, was wahres Menschsein, wahre Menschlichkeit ausmacht, damit dies nicht in Vergessenheit gerät. Jeder kann es sich an dem Platz, den er als den seinigen erkannt hat, zur Aufgabe machen diese Flamme durchzutragen, auch durch finstere Zeiten.









[i] Rudolf Steiner, Soziale Ideen - Soziale Wirklichkeit - Soziale Praxis. Band 2, GA 337b, S. 248 [1] Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde, GA 293, S. 141 [2] Rudolf Steiner, Die Erziehungsfrage als soziale Frage, GA 296, S. 17


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